The Militant, Vol. 76/Nr. 26, 16. Juli, 2012

Interview mit Olga Salanueva

Teil I

In dem folgenden am 27. Februar 2012 in Havanna geführten Interview erinnert sich Olga Salanueva an einige ihrer Erfahrungen mit der Arbeit als Immigrantin in den USA, wo sie vier Jahre lang lebte und arbeitete, bevor sie in ihr Geburtsland Kuba ausgewiesen wurde. Ihre Geschichte ist eine, mit der sich Millionen von Arbeitern in den Vereinigten Staaten, Einwanderer wie dort geborene, identifizieren können. Das Interview wurde von Mary-Alice Waters, Roger Calero und Martin Koppel geführt. Die Übersetzung ins Englische stammt von "Militant".

Mary-Alice Waters: Olga, lass' uns damit anfangen, dass Du uns erzählst, wie und unter welchen Bedingungen Du zum ersten Mal in die Vereinigten Staaten kamst.

Olga Salanuava: Ich kam am 28. Dezember 1996 dort an. René ist US-Bürger, weil er dort geboren ist, daher konnte er mir und unserer Tochter Irmita eine legale Aufenthaltsgenehmigung besorgen.
René selber war 1990 in die Vereinigten Staaten gegangen. Nach sechs langen Jahren der Trennung waren wir froh, wieder als Familie vereint zu sein und konnten unsere Pläne wieder aufgreifen, dazu gehörte, noch ein Kind zu bekommen. Bei allem Glück trat ich jedoch in eine unvergesslich schwierige, Phase meines Lebens ein.
Wie bei vielen Immigranten üblich musste René, bevor ich einreisen durfte, eine eidesstattliche Erklärung unterzeichnen, die besagte, dass er die Verantwortung für meine Kosten übernehme, auf dass ich der Gesellschaft nicht "zur Last fiele".
Es ist witzig, aber wenn ein US-Bürger dich unterstützt und du auf dem legalen Weg in die Vereinigten Staaten einwanderst, erhältst du nicht die gleiche Hilfe, die Kubaner bekommen, die mit einem Motorboot unter dem so genannten Cuban-Adjustment Act * eintreffen.
Wenn man in einem kleinen Boot ohne Papiere ankommt, versorgt die US-Regierung einen mit Arbeitsangeboten, Gesundheitsvorsorge für ein Jahr und mit Geld zum Leben. Das gilt natürlich nur für Kubaner.
Ich konnte kein Englisch und musste mir selber einen Job besorgen. Wir wohnten in Kendall, im Südwesten von Miami. Ich hatte zunächst kein Glück. Das Arbeitsamt sagte mir, ich sei nicht qualifiziert, da ich die Sprache nicht beherrsche. Dass sie nur Arbeit für Männer hätten - im Baugewerbe und ähnlichem.

Grabstätten verkaufen in Miami

Waters: Was haben Sie in Kuba studiert?

Salanueva: Ich habe ein Diplom als Industrie-Ingenieurin und auch eine Ausbildung in Buchhaltung. Aber in den Vereinigten Staaten wird dein Diplom nicht anerkannt, du musst ein entsprechendes Zertifikat vorweisen, für das du vor allem zuerst Englisch lernen musst. Man muss praktisch ganz von vorne anfangen. Ich belegte einen Buchhaltungs- und einen Computerkurs, um meine Chancen zu verbessern.
Meine erste Arbeit bekam ich in einem Pflegeheim für ältere Menschen, die Hilfe brauchten. Es war natürlich eine Privatfirma. Ich blieb dort drei Tage. Als René die Bedingungen dort sah - schmutzige Kleidung, Urin-getränkte Laken und die vielen Stunden, die ich dort arbeitete - sagte er: " Lass' uns hier weggehen."
Dann sah ich eine Anzeige für den Dienst in einem Call-Center bei einer Begräbniseinrichtung, und ich wurde eingestellt. Sie gaben uns eine Liste von Telefon-Nummern, und wir mussten sie anrufen, eine nach der anderen, um Beerdigungsdienste zu verkaufen: Totenwachen, Einäscherungen, Beerdigungen und Grabstätten.
Ich lernte, dass man in den Vereinigten Staaten, in dem, was sie "Demokratie" nennen, Geld haben muss - oder es sich irgendwie beschaffen muss - damit deine sterblichen Überreste am Ende deines Lebens einen Ruheplatz finden, ohne dass es eine zusätzliche Last für deine Familie wird.
Wir wurden bei unseren Anrufen dazu angehalten, die Leute davon zu überzeugen, einen Gesprächstermin mit Verkäufern zu vereinbaren, der oder die sie dann besuchte. Man musste eine bestimmte Anzahl von Treffen vereinbaren, sonst hätten sie einen gefeuert.
Es war ein Teilzeitjob. Wir hatten keine Rechte, keine Krankenversicherung und keinen Urlaub.
Die meisten von uns waren Latinos. Einige der jungen Frauen, die mit mir arbeiteten, waren auf Flößen aus Kuba gekommen. Etliche sagten mir, es sei ein Fehler gewesen und, dass es ihnen leid tue, Kuba verlassen zu haben.

Martin Koppel: Sie sagten, sie hätten keine Krankenversicherung gehabt. Wie wirkte sich das für sie aus?

Salanueva: Nach etwa einem Jahr wurde ich schwanger mit Ivette. Ich war nicht versichert, wir mussten alle Arztbesuche bar bezahlen.
Ich erinnerte mich an meine erste Schwangerschaft in Kuba, wo ich unter dem Mutterschutzgesetz das Recht auf einen einjährigen bezahlten Urlaub hatte.
Ich bekam einige gesundheitliche Probleme, die es während einer Schwangerschaft oft gibt - Verstopfung und andere Symptome. Die Ärzte kümmerte das nicht. Das sei normal, sagten sie mir: ich solle Saft trinken. Nach siebeneinhalb Monaten Schwangerschaft, bekam ich Hämorriden, in denen sich Blutgerinnsel gebildet hatten und die Zirkulation blockiert wurde. Es war außerordentlich schmerzhaft.
René ging mit mir ins Kendall-Hospital. Ich bekam die in den USA oft angewandte Behandlung in der Notaufnahme, wenn man keine Versicherung hat. Da war ich nun mit meinem dicken Bauch, konnte aber wegen der Schmerzen nicht einmal sitzen.
Sobald wir zur Tür hereinkamen, riefen sie René zu: "Ihre Kredikarte bitte." Sie nahmen 300 $ und hießen uns Platz zu nehmen. Aber ich konnte nicht sitzen. Ich ging auf und ab - zwei und eine halbe Stunde lang. Wenn bereits andere im Wartezimmer gewesen wären, hätte ich es verstanden. Aber da war niemand anderer. Dann schickten sie mich in die Gastroenterologie. Wieder hieß es: "Zeigen Sie mir ihre Versicherungskarte", "Welches Einkommen haben Sie?", "Welche laufenden Kosten?" Während sie ihre Rechnungen schrieben, stöhnte ich vor Schmerzen.
Schließlich kam ein Krankenpfleger zu mir, kein Arzt. Er gab mir eine Salbe und einige Beruhigungsmittel. Ich ging wütend und verzweifelt nach Hause.

Dann erinnerte sich René, dass er einem Proktologen, der eine eigene Klinik besaß, Flugstunden gegeben hatte. Die beiden hatten sich angefreundet. Als René ihn anrief, sagte der Arzt, dass es kriminell gewesen sei, was man mir angetan habe. Die Blutgerinnsel müssten sofort entfernt werden. Als René sagte, dass wir keine Versicherung besäßen, sagte er: "Bring sie her."
Die Klinik hatte bereits geschlossen, aber er sagte: "Ich werde versuchen, etwas zu unternehmen." Ich lag auf einer Krankentrage, als er mich operierte.
Ich werde diese Erfahrung niemals vergessen. Die Leute sagen, es gebe gute Krankenhäuser in den Vereinigten Staaten, und es stimmt, sie haben eine großartige Technologie. Aber wenn man kein Geld hat, hat meinen keinen Zugang dazu.
Das medizinische Personal versucht, dir zu helfen. Aber die meisten Krankenhäuser machen Geschäfte. Sie müssen Profite machen, und die Krankenpfleger sind Angestellte. Sie werden gefeuert, wenn sie die Regeln verletzen. Das ganze System ist ein Problem.

Als Ivette geboren wurde

Das selbe geschah als Ivette im April 1998 geboren wurde. René war zu der Zeit nicht da, er hatte einen Kursus in Texas. Ich hatte ihn gerade zum Flugplatz gebracht, als die Wehen einsetzten.
Ich ging begleitet von einem befreundeten Arbeitskollegin zum Krankenhaus. Und wieder begann der selbe Leidensweg: "Nehmen Sie Platz. Geben Sie mir alle Informationen." Nach einer Weile untersuchten sie mich und sagten: "Sie sind noch nicht zur Geburt bereit. Gehen Sie nach Hause." Also ging ich zurück nach Hause, wo ich mit Irmita, die damals 14 war, allein war. Ich erinnere mich, dass ich die ganze Nacht mit Wehen zubrachte.
Am nächsten Morgen ging ich mit meiner Freundin zurück zum Krankenhaus. Die Geburt war gegen 22:30 Uhr in der Nacht. Ich war fast die ganze Zeit allein, mit Monitoren, die überall bei mir angeschlossen waren. Der Arzt überwachte drei Entbindungen gleichzeitig. Eine Krankenschwester kam einmal pro Stunde, um nach mir zu sehen und mich wortlos zu untersuchen, dann ging sie wieder. Es waren meine Kolleginnen, die zu mir kamen, um bei mir zu sein, junge Immigrantinnen aus der Dominikanischen Republik und Kuba. Sie machten praktisch meine Entbindung.
Ich war 38 Jahre alt. Ich hatte hohen Blutdruck. Ich hatte über 24 Stunden in den Wehen gelegen. Als Ivette endlich geboren wurde, war die Nabelschnur zwei Mal um ihren Hals gewickelt. Ich hatte alle Anzeichen dafür, dass ein Kaiserschnitt nötig war. Aber sie ließen mich dort, bis die Geburt vonstatten ging. Es war das reinste Wunder, dass wir das überlebten.
Ivette wurde direkt nach der Geburt auf die Intensivstation gebracht, weil sie unter Sauerstoffmangel litt.
Ich wurde in die Krankenstation für Entbundene gebracht, allein. Sie gaben mir eine Bettpfanne und ließen mich mit einer Infusion an dem einen Arm und einem Blutdruckmessgerät an dem anderen zurück. So lag ich stundenlang da, ohne mich bewegen zu können. Endlich kam eine Schwester, die mir half, ins Badezimmer zu gehen und zu baden.

Der Gegensatz zu Kuba

Das war im Jachson-Memorial-Krankenhaus. Es ist das einzige öffentliche Krankenhaus im Bezirk Miami-Dade, aber es hat viele Ressourcen und ist sehr gut eingerichtet. Ich dachte: "Wau, wenn wir in Kuba wären und hätten all' diese Geräte, was könnten wir tun, mit unseren Ärzten und deren Ausbildung!" Und das schließt die Art und Weise ein, in der die Ärzte, Krankenschwestern und das andere Krankenhauspersonal ausgebildet werden, für uns als menschliche Wesen zu sorgen. Darum will die US-Regierung nicht, dass Kuba Fortschritte macht, darum blockieren sie uns.
Es ging mir hier Kuba viel besser, als ich im Krankenhaus Ramón González Coro Maternity in Havanna mit Irmita niederkam. Es ist ein kleines Krankenhaus mit den Geräten, die wir uns leisten können, aber mit unglaublich professionellen Standards und ethischer Gesinnung. Ich erinnere mich, dass ich bei der Entbindung von soviel Liebe begleitet wurde, jeder half mir.

Róger Calero: Was geschah nach Ivettes Geburt?

Salanueva: Da Ivette in den USA geboren wurde, war sie für Medicaid berechtigt, und ich ging jeden Monat mit ihr in die Klinik. [Medicaid ist ein Gesundheitsfürsorgeprogramm in den USA, das die Bundesstaaten organisieren und Bundesstaat und Bundesregierung paritätisch finanzieren. Anm. d. Ü.] Als sie etwas über drei Monate alt war, erzählten die Ärzte uns, sie habe Herzgeräusche, die ernsthaft sein könnten. Das müsse sorgfältig beobachtet werden. Jedes Mal, wenn ich sie zur Untersuchung brachte, erzählten sie mir, sie brauche eine kardiologische Ultraschalluntersuchung. Dann, einige Monate später erzählten sie mir, sie brauche eine Herzoperation, sie würden einen Spezialisten empfehlen.
Ich war wie betäubt. Was für eine Lage! René war gerade verhaftet worden. Ich hatte das Haus verloren, weil ich die Hypothek nicht bezahlen konnte, und lebte in einer kleinen Wohnung. Ich hatte keinen Zent. Die Ärzte sagten mir, ich solle mir keine Sorgen machen, die Operation sei von Medicaid abgedeckt.
Renés Großmutter Teté sorgte nach Renés Verhaftung für Ivette. Sie war US-Bürgerin und lebte in Sarasota, Florida, vier Stunden nordwestlich von Miami. Teté sagte: "Sieh mal', es gibt hier ein gutes Kinderkrankenhaus, ich werde Ivette dahin bringen, damit sie dort ein Arzt untersuchen kann."
Der Kardiologe dort erwies sich als ein sehr feiner Mensch. Er himmelte Ivette an, und veranlasste alle möglichen Tests mit ihr. Eines Tages rief mich Teté an und erzählte mit die Neuigkeiten, die sie gerade vom Arzt erfahren hatte. Er habe zu ihr gesagt: "Ich beginne mit der schlechten Nachricht. Ich werde dieses hübsche kleine Mädchen nicht mehr sehen. Die gute Nachricht: Sie ist gesund. Sie hat keine Herzprobleme."
Die anderen Ärzte hatten gelogen. Es war Betrug. Sie wollten nur das Geld von Medicaid einstecken.
Ich habe mich Tausend Mal gefragt: "Kann das wahr sein?" Als jemand, der in Kuba aufgewachsen ist, in einer vom Kapitalismus so unterschiedlichen Gesellschaft, konnte ich eine derartige Bosheit nicht fassen.
Nachdem ich deportiert worden war und Ivette zurückbekam, war es die erste Sache, die ich unternahm, zu einem Kardiologen zu gehen, weil ich immer noch Zweifel hatte. Die Ärzte in Havanna bestätigten, dass ihr nichts fehle.
Angesichts einer Wirtschaftsblockade durch die USA ist Kuba ein Land mit begrenzten Ressorcen. Wir können Engpässe bei einer bestimmten Medizin bekommen. Die Ärzte müsse eine Medizin durch eine andre ersetzen, oder ein Patient bleibt so lange ernsthaft krank, bis die Medizin ankommt.
Aber das Problem ist nie der Mangel an ärztlicher Aufmerksamkeit oder Desinteresse der Regierung.

* Unter dem Cuban Adjustment Act von 1966 erlaubt die US-Regierung Kubanern, die behaupten vor der Revolution geflohen zu sein, ein Jahr nach ihrer Einreise unbegrenzten Aufenthalt - ein Schnellweg zur US-Staatsangehörigkeit, der keinem Immigranten irgend eines andren Staates zusteht.

Der zweite Teil des Interviews erscheint in der Ausgabe von nächster Woche.

Deutsch: ¡Basta Ya! (jmb, db)

(Quelle: The Militant vom 16. Juli 2012)

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