Victors Rede auf dem Internationalen Symposium gegen die Isolation am 16.12.2004 in Berlin

Wenn ich das Programm dieses Treffens durchblättere fällt mir auf, daß der Fall Mumia Abu-Jamal, worüber ich jetzt spreche, der einzige ist, wo es um nur eine Person geht. In der Tat, unser Bündnis konzentriert sich seit vielen Jahren darauf, einen einzigen aus der Todeszelle zu befreien. Wo es so viele wichtige Kämpfe in der Welt gibt, die sich für viele Eingesperrte, Diskriminierte und Unterdrückte einsetzen, vielfach für ganze Völker, wie können wir rechtfertigen, dass wir uns derart für einen einzigen Mann so einsetzen?

Für verschiedene Leute gibt es dafür verschiedene Erklärungen.

Einige würden sagen: Mumia Abu-Jamal ist nicht irgendein Mann. Er ist ein ganz Besonderer. Ein äußerst kluger, äußerst schöner, äußerst fähiger Mann, mit der Gabe, viele Menschen zu erreichen, zu motivieren, zu aktivieren. Schon vor seiner Verhaftung - schon über 22 Jahren her - war er ein beliebter weil kompromißloser Journalist, dessen tiefe, warme Rundfunkstimme viele Menschen bewegte. Und trotz der Gitter und der Verbote bei seiner jahrzehntelangen Isolierung in einer winzigen Todeszelle, das ist er bis heute geblieben, wie man vor allem in seinen Kommentaren und Büchern feststellen kann..
Andere, die an diesem Kampf teilnehmen, könnten antworten. Ja, das trifft alles zu, doch darf man das wichtigste nicht vergessen: Mumia Abu-Jamal ist unschuldig! Zweiundzwanzig Jahre sitzt er in der Todeszelle, immer unter der Gefahr, morgen oder übermorgen in der Gaskammer geopfert zu werden - unter schlimmen Schmerzen - unter den Augen der Schaulustigen, der Haßgeladenen, der Rachsüchtigen. Und das für ein Verbrechen - für das Erschießen eines Polizisten 1982 in Philadelphia, das Mumia nicht begangen hat.
Die Geschichte des Prozesses gegen ihn, und wie man falsche Zeugen gegen ihn unter den stärksten Druck setzte, macht das klar. "Du sollst das sagen, was wir von dir verlangen", sagte die Polizei, "dann lassen wir alle Klagen gegen dich fallen. Sagst du aber nicht, was wir verlangen, gibst du zu, daß du nicht einmal unmittelbar dabei warst, als die Schüsse fielen, dass du Mumia gar nicht sehen konntest - dann werden wir dich mit aller Härte verfolgen! Dann kommst du selber hinter Gitter." Das waren etwa die Methoden, mit denen man Mumias "Schuld" bewiesen hat.
Dazu wurde die Geschworenengruppe möglichst von allen fairen Mitgliedern bereinigt. In einer Stadt, die zu mehr als vierzig Prozent schwarz ist, ware fast alle Weiße. Die Staatsanwälte waren für ihre Blutrunst bekannt der Richter hatte mehr Menschen zum Tode verurteilt als jeder andere in den USA, die meisten davon Afroamerikaner. Eine Angestellte hörte, wie dieser Hüter der Gerechtigkeit sagte: "Den Nigger werden wir braten lassen...!"
Der Mord in der Winternacht war tatsächlich mysteriös, ja finster. Doch die Fakten machen klar, dass Mumia Abu-Jamal, davon sind wir völlig überzeugt, absolut unschuldig war. Ja, auch das ist ein Grund, sich für ihn einzusetzen!
Immer wenn ein Unschuldiger mit Gefängnis oder gar mit dem Tode bedroht wird, ist es richtig und wichtig, für ihn zu kämpfen. Doch erklärt das nicht völlig, warum Menschen in vielen Ländern - auch in Deutschland, in Berlin, Hamburg, Bremen, Heidelberg und anderen Orten - weiter versuchen, die Geschichte bekannt zu machen, Mumias Leben zu retten und seine Freiheit zu gewinnen.
Der wirkliche Hauptgrund ist, meine ich, Mumia ist nicht nur ein unschuldiger und sehr sympathischer Mensch, er ist zugleich ein Symbol. Auch seine Verfolgung hat Symbolcharakter. Dieser Fall basiert auf Verlogenheit und ist ein starkes, bitteres Beispiel der Brutalität der Polizei, der Korruptheit der Medien, der unfairen Gerichte wie auch der Benutzung der Todesstrafe als Drohmittel gegen Opposition "von unten", also für politische Unterdrückung und - vor allem - für den Rassismus.

Das gibt es auch in anderen Ländern, vor allem in solchen, die zu Imperien wurden. Uns es ist besonders dramatisch und tragisch in der USA-Geschichte.
Seitdem die ersten Sklaven in Ketten nach Nordamerika entführt wurden, herrschte brutale Unterdrückung gegen jeglichen Widerstand. Meistens fand er isoliert auf einzelnen Plantagen statt, doch immer wieder kam es zu regelrechten Rebellionen. Dann schlugen die Sklavenherren panikartig zu. Wie gegen Denmark Vesey 1822, der Aufstand wurde verraten, 132 Sklaven wurden verhaftet, auch ein Engländer, ein Schotte, ein Spanier und ein Deutscher. 36 Schwarze wurden gehängt, auch der Organisator Denmark Vesey.
1859 eroberten 22 Schwarze und Weiße, geführt von John Brown, eine Festung im kleinen Ort Harpers Ferry - als erster militärischer Schlag gegen die Sklaverei. Sie konnten schnell überwältigt werden - damals schon von der USA-Marineinfanterie. John Browns zwei Söhne und neun andere starben dabei. Vorm Gericht sagte der alte Kämpfer: "Wäre ich zugunsten der Reichen, der Mächtigen, der Intelligenten, der sogenannten Großen eingeschritten...dann wäre alles in Ordnung...Ich bin, sage ich, noch immer zu jung zu begreifen, daß Gott einige Menschen höher achtet als andere." Keine zwei Jahre nachdem Brown und die anderen gehängt wurden, begann der lange, blutige Bürgerkrieg. Mit der Niederlage der Sklavenherren wurde die legale, offene Sklaverei endlich abgeschafft. Der weitere Kampf für echte Befreiung und Gleichheit dauert heute noch an, immer noch von Menschen wie John Browns Gruppe, Denmark Vesey und vielen anderen inspiriert. Aber auch der Gehenterror.
Bald kamen die Arbeiter dran. 1877 wandte sich die Macht des Staates gegen streikende Bergleute in den Bergen von Pennsylvania, die gegen das Elend einer Wirtschaftskrise kämpften. Sie kamen aus Irland, damals völlig unter britischer Herrschaft, und wegen einer Untergrundbewegung jener Zeit nannte man sie "Molly Maguires". Neunzehn Männer gingen mutig zum Schafott, manche mit einer roten Rose im Revers.
Wenige Jahre später, 1886, demonstrierten arbeitende Amerikaner in vielen Städten für den Achtstundentag; etliche schufteten damals zwölf, vierzehn und mehr Stunden am Tag. Die Bosse und deren Behörden bekamen wieder Angst. Nach der Provokation eines Bombenwerfers am Haymarket Platz in Chicago verhafteten sie acht Arbeiterführer, und die gedungenen Geschworenen wie der bigotte Richter entschieden für alle acht: Schuldig. Sechs davon waren Deutsche, die mit der Hoffnung auf Freiheit nach Amerika ausgewandert waren. Einer war Engländer, einer, Albert Parsons, kam aus Texas, der Heimat auch mancher guten Menschen! Vier der Männer wurden gehängt, einer starb in seiner Zelle, bei dreien wurde auf Lebenslänglich "abgemildert". Ein mutiger Gouverneur opferte seine Karriere und befreite sie, im gleichen Bundesstaat Illinois, wo vor kurzem ein ebenfalls mutiger Gouverneur, Ryan, etliche ungerecht zu Tode Verurteilte amnestierte. Wegen dieses Einsatzes für den Achtstundentag und der Hinrichtung dieser "Haymarket Märtyrer" entstand - auf dem Vorschlag von Friedrich Engels - der Arbeiterfeiertag "Erster Mai" - den man jetzt abschaffen will.

Die Reihe wurde im zwanzigsten Jahrhundert nicht kürzer! Gerade in den USA folgte ein Kampf dem anderen gegen die blutige Krake!
1905 konnte eine solche Bewegung den revolutionären Arbeiterführer "Big Bill" Haywood vor der Hinrichtung retten. Der Mordes, an dem er beteiligt gewesen sein sollte, fand Tausend Meilen von ihm entfernt statt. Doch er war der verhaßte Führer der kämpferischen Industriearbeiter der Welt, der IWW, oder Wobblies. Die ähnlich verlogene Mordanklage gegen einen anderen "Wobbly", den beliebten, aus Schweden eingewanderten Arbeiterdichter und Sänger Joe Hill, endete 1915, trotz eines ähnlichen Kampfes in vielen Ländern, mit seinem Tod. Kurz bevor er erschossen wurde - man durfte in Utah zwischen hängen und Erschießen wählen - schrieb Joe an die Tausende, die ihn liebten und ehrten: "Trauert nicht um mich. Organisiert euch!"
Sechs Jahre später, während der hysterischen Treibjagd auf die linken Bewegungen nach dem der Sowjetunion, verhaftete der noch neue FBI die italienischen Einwanderer Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti. Wieder war es wegen eines Raubmordes, den diese kämpferischen und doch feinfühligen Menschen unmöglich begangen hätten. Sie konnten auch beweisen, daß sie zu der Zeit ganz woanders waren. Das war dem Gericht egal: Die beiden galten als gefährlich, als unpatriotisch - sie sprachen nicht mal perfektes Englisch! Beim Golfspiel sagte der Richter einem Bekannten: "Hast du gesehen, wie ich gestern mit den anarchistischen Bastarden umgegangen bin? Das wird sie wohl ein Weilchen beschäftigen!"
Menschen in vielen Ländern kämpften für die beiden, sechs Jahre lang. In Berlin am Lustgarten hörten 150 000 Menschen den Kommunistenführer Ernst Thälmann beim Protest gegen ihre Hinrichtung.
Zwei Jahre nachdem die Lichter im Gefängnis von Boston kurz flackerten, als Sacco und Vanzetti im elektrischen Stuhl starben, schlug wie ein Rachegott die schlimmste Wirtschaftskrise der Geschichte zu. Viele Tausende wanderten in Güterwagen durch die USA auf der Suche nach Arbeit - die es nicht gab. Im südlichen Alabama verhaftete man neun solche junge Kerle, einer war nur dreizehn, wegen angeblicher Vergewaltigung. Die beiden betroffenen Mädchen logen, eins gab das später zu. Doch waren sie weiß und die neun waren schwarz. In Alabama bedeutete das Tod - durch Lynchen oder, wie hier, durch ein Gericht. Die Unterdrückung der Schwarzen mußte mit Angst und Schrecken aufrechterhalten werden. Dafür war ja die Todesstrafe da. Der Ort hieß Scottsboro, und der Kampf um die "Scottsboro Boys", geführt von Kommunisten, erreichte mehrere Kontinente. Es dauerte viele Jahre, doch endlich konnte auch der letzte der Neun befreit werden.

So viele Kämpfe, so viele Jahre: Dem Streikführer Tom Mooney, ein Straßenbahner, warf man vor, eine Bombe geworfen zu haben. Er war nachweislich zwei Kilometer entfernt, doch verurteilte man ihn erst zum Tode, dann zu Lebenslänglich; erst nach 23 Jahren wurde er 1939 freigekämpft.
Der 19jährige Afroamerikaner Angelo Herndon, ein Kommunist, wurde erst zum Tode, dann zu 20 Jahren Haft verurteilt, wegen seiner kämpferischen Flugblätter, die zu schwarz-weißer Einheit aufriefen. Und das in Georgia! Eine brilliante Verteidigung und Kampf konnten ihn nach fünf Jahren befreien.
So ging es auch nach dem Weltkrieg weiter. In den siebziger Jahren mußte im Gerichtssaal um das Leben von Schwarzen Panthern wie Huey Newton gerungen werden, während andere einfach in ihrem Bett oder auf der Straße totgeschossen wurden. Über Angela Davis und den weltweiten Kampf um ihre Befreiung von einem möglichen Todesurteil brauche ich nicht so viel zu sagen: Sie kommt bald selbst nach Berlin. Vergessen darf man keinesfalls die neun schwarze Häftlinge der MOVE-Bewegung in Philadelphia, die immer noch eingesperrt sind - lebenslänglich. Eegen des Tötens eines Polizisten, der fast sicher im Kugelregen der eigenen Kollegen in Blau erschossen wurde. Womit wir wieder bei Mumia Abu-Jamal angekommen sind, der ihr Freund ist.

Habe ich zu viele Fälle in den USA genannt? Ich finde es wert, an die Kämpfe vergangener Zeiten zu erinnern, die gewonnenen wie die verlorenen. Sie beweisen deutlich wie die Drohung mit langen Gefängnisstrafen und mit dem Tode - durch den Strang, das Erschießen, den elektrischen Stuhl, Gas oder Gift - immer als Waffe benutzt wurde, um Menschen einzuschüchtern, ob es Gewerkschafter waren oder, wie so oft, Vertreter der Gruppe, die am meisten unterdrückt wird, die schwarzen Amerikaner.
Zu dieser Methode braucht man keinen Plan oder gar Verschwörung, sie gehört einfach zum System und umschließt jeden karrieregeilen Staatsanwalt, jeden gewalttätigen Bullen und jeden rassistischen Richter, der sicher ist, Beifall oder Wahlstimmen oder Promotionen zu bekommen, wenn er schnell wieder irgendeinen Schwarzen einsperren oder hinrichten läßt.
Das erklärt auch warum der Fall Mumia Abu-Jamal so wichtig ist. Bullen und Staatsanwälte brachten ihn vor den mörderischer Richter, der ihn verurteilte - und dann selbst mitentschied, daß er keinen neuen Prozeß bekommen darf. Der Richter lebt zwar nicht mehr, doch der Apparat, stark wie immer, will seine Beute nicht hergeben. Das wäre eine Niederlage für ihn und sein System. Man fürchtet das, was ein freier Mumia schaffen könnte; nachdem so viele kämpferische und bekannte Führer der Schwarzen und der Armen beseitigt worden sind. Mumia könnte manches erreichen! Daher wurde mit den reaktionären Medien eine ganze von der Polizei geführte Kampagne aufgebaut, um Mumia kaputtzukriegen, um ihn zum Schweigen zu bringen a) weil er schwarz ist, b) weil er den Mund gegen sie nicht hält.

Daß seit der Gründung der USA die Politik und der Rassismus immer eng zusammenhängen zeigten wieder die letzten USA-Wahlen. Gewiß, John Kerry war kein guter, nicht mal ein kämpferischer Kandidat, doch war es wichtig, Bush zu schlagen. Das gelang nicht. Dennoch, die stärkste Kraft gegen Bush und die finsterste Reaktion waren - wie so oft - die schwarzen Amerikaner, die am wenigsten den verlogenen, gekauften Medien Glauben schenken. Fast neunzig Prozent der schwarzen Wähler stimmten gegen Bush, und sie bilden auch eine Basis für künftige Kämpfe gegen ihn und seine mächtigen Hintermänner.
Das ist auch eine entscheidende Frage für die Welt. Bush darf daher nirgendwo ohne Proteste auftreten; weder in den USA noch sonstwo. Die Opposition muß immer stärker werden. Und ist nicht die Politik der Bush-Leute - für die Superreichen, gegen die Schwarzen, die Armen, die Arbeitenden der USA - nicht der gleiche Kampf wie in der ganzen Welt? Ob im Ghetto von Philadelphia, woher Mumia kommt, in den auspowerten Baumwollfeldern von Westafrika und Uganda, in den vom Erdöl verseuchten Wäldern von Ecuador und Nigeria, ob unter den Zwei Millionen Häftlingen in den Gefängnissen der USA, fast die Hälfte davon Afroamerikaner, oder in den Häftlingsanstalten, wo Palästinenser gefoltert werden - die Feinde sind die gleichen, und die Mitkämpfer sind auch die gleichen, egal welche Hautfarbe, Sprache oder Religion sie haben. Daher ist Mumia, der für alle spricht, ein Symbol, für den es lohnt, weiter und unermüdlich zu kämpfen. Jeder Sieg gilt für alle - aber auch jede Niederlage!

Über Mumia gab es vor zwei Jahren manche Verwirrung. Die Medien -leider auch ein paar, die sich als Linke betrachten - meinten, der Spruch eines Richters würde für Mumia zwar lebenslängliche Haft bedeuten, doch sei das Todesurteil für ihn aufgehoben. Diese Falschmeldung lähmte manche Kämpfer. Es gab auch Verwirrungen wegen eines Wechsels der Rechtsanwälte. Doch die Gefahr einer Hinrichtung besteht immer noch, nach wie vor - ja, durch die Wiederwahl von George Bush und die wahrscheinliche Ernennung von mehr Reaktionären in die höchsten Gerichte der USA ist die Gefahr gestiegen. Laßt Euch nicht durch komplizierte juristische Komplikationen im US-amerikanischen Justizsystems irreführen. Der Kampf geht weiter. Sie haben den Fall Mumia zum Hauptfall gemacht! Wir aber auch.
Mumia muß befreit werden, er muß zumindest einen neuen, fairen Prozeß bekommen, und die Todesstrafe, wie immer mehr Amerikaner merken, wenn auch noch viel zu langsam, muß als fürchterliches Druckmittel abgeschafft werden. La lutta continua!

Victor Grossman
15./16.12.2004
Tel. 030 241 5967
Email: wechsler_grossman@yahoo.de

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