Abschied von Siegfried Scholze,Professor für Allgemeine Geschichte der Neuzeit, em. |
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Du selber hast Dich in den letzten Jahrzehnten Deines Lebens als Geschichtsprofessor vor allem darum verdient gemacht, dass die Geschichten anderer Menschen, die sich in der neueren Zeit für mehr soziale Gerechtigkeit auf dieser Welt einsetzten, unvergessen bleiben. Dein letztes Buch, das uns vorliegt, "Der Internationale Frauentag einst und heute - Geschichtlicher Abriß und weltweite Tradition vom Entstehen bis zur Gegenwart", 2001 im Trafo-Verlag, Weist, erschienen, ist noch ein beredtes Zeugnis für Dein Gerechtigkeitsempfinden und Dein Bedürfnis, auch dem gesellschaftspolitischen Beitrag der Frauen Geltung zu verschaffen.
Wenn wir es auch nicht schaffen werden, Deine gesellschaftswissenschaftlichen Verdienste und noch weniger Dein gesamtes Lebenswerk zu würdigen, so möchten wir zumindest die Spuren hervorheben, die Du trotz Deiner gesundheitlichen Beeinträchtigungen der letzten Jahre im Kampf gegen die Medienblockade im Fall der Fünf und für deren Befreiung aus unrechtmäßiger U.S.-Gefangenschaft in unserer Wahrnehmung hinterlassen hast.
Zunächst sind wir jedoch dem "Schicksal" dankbar, dass wir Dich überhaupt kennen lernen durften.
Man könnte sagen, dass uns unsere gemeinsame Liebe zu Kuba zusammen führte. Jetzt ist es uns ein Bedürfnis, die Erinnerung an den Beginn unserer "wunderbaren Freundschaft" hier wiederzugeben: Es war im Oktober 1999, als wir uns unabhängig von einander - Du in Leipzig und wir in Jülich - an einer dreiwöchigen von Cuba Sí Berlin organisierten Kubagruppenreise, entschlossen hatten teilzunehmen. Wir waren praktisch von den äußersten Rändern unserer noch nicht lange wieder vereinigten Republik angereist und trafen uns auf dem der Pariser Flughafen Orly, um die Reise gemeinsam fortzusetzen, das hieß damals, die von Cuba Sí unterstützten kubanischen Milchfarmen und andere dortige Einrichtungen wie solche für sehbehinderte Kinder - selten sollten wir Kinder so schön singen hören können wie in der Schule für sehbehinderte Kinder in Holguin - Krankenhäuser und Schulen zu besuchen und uns mit kubanischen Gewerkschaftlern und Komiteemitgliedern zur Verteidigung der Revolution zu treffen. Wir sollten vor Ort einen hervorragenden Reiseführer und Dolmetscher haben, den unvergessenen Jorge Alfonso. Wir "Wessies" waren in der Minderheit und Eure Haltung uns gegenüber war zunächst ziemlich reserviert. Aber unsere gemeinsamen Erlebnisse unter der Sonne bzw. den Tropengüssen Kubas, unter den aufgeschlossenen und von der internationalen Solidarität geprägten gastfreundlichen Kubanern lockerte sich die Atmosphäre, und wir kamen uns im Laufe der Reise innerhalb der gesamten Gruppe immer näher. Erwähnt sei, dass zu dieser Reisegruppe auch unser jetziges Komiteemitglied Elisabeth Dietze, die ehemalige Studienfreundin von Tamara Bunke, gehörte, mit der wir im Jahr darauf - weil's so schön war - eine Reise unter ähnlichen Bedingungen wiederholten. Es ergab sich, dass wir gerade mit Dir in immer intensiveren Gesprächsaustausch kamen. Beim Gewerkschaftsabend in Santa Clara wurde das Eis zum ersten Mal gebrochen, es folgten ähnliche Treffen wie das in Camagüey, und in Las Tunas saßen wir dann schon ganz gemütlich beim Frühstück zusammen. Das erste längere Gespräch hatten wir jedoch in Holguin in einem Restaurant auf dem Berg mit rankenbewachsener Dachterrasse, als wir uns in deren Schatten auf den Bänken an einem der langen Tische gegenüber saßen und auf das Essen warteten und von dort aus einen herrlichen Blick ins Tal hatten. Während aus der Küche die Bratendüfte und Knoblauchschwaden zu uns herüber wehten, erzählten wir uns von den leider Daheimgebliebenen, mit denen wir dieses Erlebnis jetzt nicht teilen konnten und von Erinnerungen an andere schöne Reisen. Du warst beispielsweise auch schon in Vietnam gewesen. Jedenfalls merkten wir im Laufe dieses Gesprächs und der weiteren auf dieser Reise, dass wir viel mehr Gemeinsames hatten als zuvor angenommen. Vor allen Dingen verband uns natürlich unsere gemeinsame Liebe zu Kuba und auch die Sorge, dass dieses beispielhafte Modell an mitmenschlicher Wärme, das seine Errungenschaften auf dem Gesundheitswesen und der Bildung unter den widrigen Bedingungen der "Spezialperiode" so tapfer gegenüber seinem gefräßigen Nachbarn verteidigte, letztendlich doch kapitulieren müsste. - Als wir uns auf der Rückreise innerhalb des Pariser Flughafens Charles de Gaulle wieder trennen mussten und uns zum Abschied "mit Träne im Knopfloch" zuwinkten, war diesmal nur noch eine Glaswand zwischen uns.
Kuba hatte unsere Wiedervereinigung jedenfalls im Rahmen dieser etwa 20-köpfigen Reisegruppe erst ermöglicht.
In den darauf folgenden langen Briefen, die wir uns über mehr als sieben Jahre schrieben, erzählten wir einander praktisch unsere ganze Lebensgeschichte. Und so erfuhren wir, dass es Dir, lieber Siegfried, wahrhaftig nicht an der Wiege gesungen worden war, einmal Geschichtsprofessor zu werden. Du warst stolz auf Deine proletarische Herkunft und blicktest ohne Wehleidigkeit auf eine entbehrungsreiche Kindheit und Jugend zurück, die gerade für Deine Generation zwar nicht untypisch war, weil von Nazizeit und Krieg überschattet, aber für Dich noch besondere Härten enthielten. Wir kamen nach deren Lektüre zu dem Schluss, dass ein junger Mann, sei er auch noch so begabt, fleißig und idealistisch gewesen, wie Du es zum Beispiel warst, in Westdeutschland niemals Professor an einer Hochschule geworden wäre. Das gleiche gilt für die heutigen Jugendlichen der gesamten Republik, in der nach der Wiedervereinigung die letzten Konzessionen an soziale Gerechtigkeit im Hinblick auf Chancengleichheit abgebaut werden.
Nach der Wende wurde Deine Professur gewissermaßen "mit abgewickelt", und Du musstest mit einer vergleichsweise bescheidenen Rente auskommen, von der Du Dir keine Fernreisen leisten konntest. So hatte Dein Sohn Dir diese Kubareise "spendiert", wie Du uns nicht ohne Stolz berichtet hattest.
Trotz Deiner dann folgenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen warst Du nicht inaktiv, neben dem oben erwähnten Buch verfasstest Du noch kleinere Schriften, Artikel für "Leipzigs Neue", Leserbriefe und Beiträge zu verschiedenen Themen in "Neues Deutschland". Außerdem warst Du der Erste der späteren Mitglieder des Komitees zur Befreiung der Fünf ¡Basta ya!, der Unterschriften für die Freilassung der Cuban Five gesammelt hatte. Bei der Gewinnung von Unterstützern stelltest Du uns wichtige Adressen und Deinen guten Namen zur Verfügung. Leider konntest Du an unserer Gründungsveranstaltung am 14. Dezember 2002 in Köln nicht physisch anwesend sein, aber Du unterstütztest uns mit Deiner Grußbotschaft und später mit Artikeln zugunsten der Fünf, wie sie hier auf der Website nachzulesen sind. Du spendetest immer wieder von Deiner schmalen Rente, wenn es z.B. um die ganzseitige Anzeige in der New York Times oder den Besuch eines der Verteidiger der Fünf, Leonard Weinglass, in Berlin ging, Du ermutigtest uns per E-mail und gehörtest zu denen, die uns gelegentlich bei der Formulierung offizieller Briefe halfen, wie bei unserem ersten Brief an den Vatikan zugunsten der Fünf, damals an Papst Johannes Paul II, der tatsächlich wohlwollend beantwortet wurde. Noch in diesem Jahr konnten wir unsere Unterschriftenlisten, ob es um das Besuchsrecht von Adriana und Olga ihrer Ehemänner im Gefängnis zur Vorlage im Europäischen Parlament ging oder um den "allgemeinen Standpunkt" des Europäischen Parlaments gegenüber Kuba, mit Deiner Unterschrift inklusive Deiner akademischen Titel schmücken.
Wir wissen, dass Du mit den Fünfen selber in Briefkontakt standest und dass auch sie Dich jetzt vermissen. Wir wissen jedoch auch, dass Fernando und Antonio Dir noch wenige Tage vor Deinem Tod mit ihren Briefen ihre Zuneigung und Dankbarkeit zeigen konnten.
Nun müssen wir alle ohne Dich zurecht kommen, lieber Siegfried. Doch, was Du uns und der Gesellschaft an sich einmal gegeben hast, kann uns keiner mehr nehmen und wird uns weiter ermutigen, auch in Deinem Sinne zu handeln ¡Hasta la victoria siempre! lieber Siegfried.
Josie Michel-Brüning