Gedanken zum Sinn der José-Martí-KonferenzenJosie Michel-Brüning in Zusammenarbeit mit Dirk Brüning
Wenn man dem Sinn, dem politischen, philosophischen, ethischen und ästhetischen Gehalt, sprich der Kultur der José Martí Konferenzen so gerecht wie möglich werden will und der liebevoll-heiteren Atmosphäre, wie sie dort von den Organisatoren geschaffen und den Teilnehmern getragen wird, die ebenfalls mit dem bis heute andauernden Einfluss der historischen Person José Martís auf die kubanische Revolution zusammenhängt, reicht es nicht, einfach nur die Namen ihrer jeweilig bedeutenden Referenten aufzuzählen, noch die aktuell brennenden Themen, die in deren Vorträgen behandelt wurden, wiederzugeben.
Denn: "Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile." (Einstein zitiert Aristoteles) In diesem Fall der jeweiligen Themen und Namen und der kulturellen Rahmenveranstaltungen. Aus Sicht der heute in den USA und Europa maßgeblichen Politiker mag es als schlichte Vermessenheit des kleinen Inselstaates Kuba ausgelegt werden, zu einer Konferenz, "Für das Gleichgewicht in der Welt", im Gedenken an und im Sinne von José Martí einzuladen und damit das auf der Insel gepflegte martianische Gedankengut gewissermaßen exportieren zu wollen. Der jetzigen Bush-Administration ist es ja schon ein "Dorn im Auge", dass die Kubaner ihre Mediziner und Lehrer in die entsprechend hilfsbedürftigen Regionen der Welt schicken, dass sie z.B. mit medizinischen Erkenntnissen und den daraus gewonnenen Anwendungen wie ihren erfolgreichen Operationen des grauen Stars, Stichwort "Operación Milagro", "Aktion Wunder", von sich Reden machen.
Wir haben selbst Kuba-Sympathisanten auf der Konferenz 2003 kopfschüttelnd sagen hören, als es vor allem um die Vorstellung der historischen Persönlichkeit Martís ging: "Das ist doch der Patriotismus aus dem 19. Jahrhundert!" [Tatsächlich war das nach einem wundervollen Vortrag von Eusebio Leál über das Leben Martís.]
Natürlich ist das "martianische Denken" im Austausch eines einmaligen historischen Menschen mit den Gegebenheiten von Ort und Zeit entstanden. Wie z.B. auch Fidel oder Ché entstammte José Martí der privilegierten Schicht seiner Gesellschaft mit Zugang zu Bildung und der Gelegenheit, nicht nur die eigene Situation, sondern auch die aktuell gesellschaftliche reflektieren zu können, andererseits gehörte Martí nicht zu denen, die unmittelbar von der Ausbeutung der anderen profitierten und sich entsprechend darin etablieren konnten. Gleichzeitig muss ihm ein liebevolles Elternhaus, im Falle José Martís war es wohl vor allem seine Mutter ["Mi madre dijo ..."], Lebensfreude und die Liebe zum Leben vermittelt haben, die auf der Ehrfurcht vor dem Leben, vor der Natur und den Mitmenschen beruht. Dies muss ihm das Glück der Harmonie erlebbar gemacht haben, wie es ist, sich mit anderen im Einklang zu fühlen und sich mit ihnen am Dasein zu erfreuen. Wenn man als Kind liebevollen Vertrauensvorschuss im Respekt vor den eigenen Entwicklungsmöglichkeiten erhalten hat, kann man ihn auch anderen entgegenbringen. Danach wird jedoch der Verlust oder die Abwesenheit alles dessen um so schmerzlicher erlebt und diese Emotion kann wiederum dazu motivieren, sich für eine "bessere Welt" einzusetzen. Wie Armando Hart, der Vorsitzende und Begründer der José-Martí-Gesellschaft und revolutionärer Mitstreiter Fidels, in seinem Einladungstext für die erste José-Martí-Konferenz zum hundertfünfzigsten Geburtstag José Martís "Por el Equilibrio del Mundo" schon ausführte, basieren die auf der Konferenz behandelten Aspekte auf dem, was Martí als die "Seele der Wissenschaft", die "spirituellen Fakten" und den "Nutzen der Rechtschaffenheit" nannte, wie er es in dem Satz ausdrückte: "Das Geheimnis des Menschlichen liegt in der Fähigkeit, sich zu vereinigen". Der utopische Gedanke Martís gehe unter anderem auch auf die Frühstadien dessen zurück, was die westliche Zivilisation ursprünglich mitgeprägt habe und was wir heute Christentum nennen, heißt es dort unter Punkt 2. - Wie es sogar Papst Benedikt XVI. in seiner vielbeachteten Enzyklika "Deus Caritas est" konzediert: Die ersten Christen waren Kommunisten. - Fidel zitiert in seinem Redebeitrag für die José-Martí-Konferenz 2003, der auch wieder für die jetzige zur Verfügung gestellt wurde, aus dem Aufsatz des kaum 18-jährigen Martí, der schon als 16-jähriger eine Gefängnishaft in Fußeisen hatte erdulden müssen: "Es gibt einen Gott, jedoch im Sinne des Guten, der über die Geburt eines jeden Wesens wacht und der in der Seele, die sich ihm einverleibt, eine unverfälschte Träne hinterlässt. Die Träne ist die Quelle des ewigen Leides."
Der deutsche Philosoph Ernst Bloch sagte: "Not lehrt Denken." Und der von uns Deutschen noch vor wenigen Jahren mit einem "Schiller-Jahr" geehrte Dichter schuf die bekannte "Ode an die Freude". Meine Generation musste sie als Kind noch auswendig lernen, ohne dabei in ehrfürchtiges Staunen über den Gehalt ihrer Botschaft zu geraten. José Martí integrierte in seiner Person Philosophie (die Liebe zur Weisheit, die die Synthese der Wissenschaften ermöglicht) und Poesie (die Synthese von Emotion und Verstand) und den politischen Verstand und Willen, sich für eine bessere Welt einzusetzen, wenn es sein musste, eben auch unter Einsatz seines eigenen Lebens, in seinem Fall im Kontext der allgegenwärtigen gewaltsamen Unterdrückung in Lateinamerika, im gemeinschaftlichen Kampf mit der Waffe in der Hand. Mahatma Gandhi soll gesagt haben: "Die Geschichte lehrt die Menschen, dass man aus der Geschichte nichts lernt." und zum Christentum: "Seine Lehre aber wurde entstellt, als das Christentum seinen Weg nach Westen nahm. Es wurde die Religion der Könige." [nämlich, als Konstantin I. der Große um 330 n. Chr. "im Zeichen des Kreuzes" zu siegen begann] Kuba scheint jedoch sehr wohl aus seiner Geschichte lernen zu wollen, aber nicht nur aus seiner eigenen Geschichte, sondern auch aus der der Philosophie der Aufklärung eines Immanuel Kants, der Verstand und Moral miteinander verband, aus den dialektischen Theorien von Marx und Engels sowie aus den ursprünglich humanistischen Gedanken des Christentums.
Man kann die Feststellungen Gandhis auf unsere gesamte westliche Kultur übertragen, denn auch die jeweiligen Wissenschaften und Künste wurden im Interesse der jeweilig Herrschenden, des von ihnen geschaffenen Zeitgeistes, der "Mode", wie Schiller es nannte, von einander getrennt gehalten, um für deren Zwecke besser instrumentalisiert werden zu können. Wenn man das fundamentalistische Sendungsbewusstsein einer Bush-Dynastie verstehen will, muss man wahrscheinlich die US-amerikanische Geschichte zu Hilfe nehmen. Die in Amerika eintreffenden Pilgrimfathers hatten als verfolgte Calvinisten in England ein ähnliches Schicksal erlitten wie schon Abraham im alten Testament. Bei ihrer Landnahme in der Neuen Welt glaubten sie wohl, dass sie als religiös Verfolgte ein Recht auf die rücksichtslose Eroberung eines eigenen Lebensraumes hätten und sich der Segen ihres einzig wahren Gottes dann dem Tüchtigen in der Verwirklichung dieses Anspruchs und in dem so erkämpften irdischen Wohlstand zeige. Daraus scheint zu resultieren: Wer reich ist, hat Recht und verdient Respekt. Der Kapitalismus scheint nicht nur auf der menschlichen Besitzgier zu beruhen, sondern auch auf der Ideologie, dass sich der Wert des Menschen vor allem in seinem Besitz ausdrückt. - Die Deutschen wurden nach der Niederlage des I. Weltkrieges durch die Versailler Verträge gedemütigt, wonach "das Volk der Dichter und Denker" sich für den Nationalsozialismus einspannen ließ und halb Europa in Schutt und Asche legte. Trotz aller sie von einander trennender Hindernisse sind z.B. die Wissenschaftler immer wieder zu gleichen Ergebnissen gekommen. Im 19. Jahrhundert, dem Zeitalter der Industrialisierung und der verstärkten Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft, des verstärkten Imperialismus stand "die soziale Frage" im Mittelpunkt. Menschen wie Marx und Engels sowie José Martí wurden gewissermaßen mit der Nase auf die Dialektik zwischen Materie und Geist gestoßen, die der materiellen Ressourcen vor Ort, der jeweiligen Herrschaft über Land und Produktionsmittel, deren Missbrauch durch Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft und deren Folgeerscheinungen, der Verelendung der Massen. Was Marx von José Martí u.a. zu unterscheiden scheint, ist, dass Marx kein Dichter war und es vermied, in seine wissenschaftlichen Analysen Emotionen einfließen zu lassen, wie José Martí in seine Gedichte, Briefe und Schriften und dass aus den Theorien von Marx, die zur ständigen Weiterentwicklung entsprechend den sich verändernden Gesellschaftsbedingungen und den daraus erwachsenden Erkenntnissen gedacht waren, der "Marxismus" gemacht wurde, eine freudlose starre Ideologie. Eine Lehre, die den Menschen bzw. ungebildeten Massen "übergestülpt" wurde, wie es Frei Betto auf der letzten José-Martí-Konferenz ausdrückte, die sie sich nicht aneignen und entsprechend ihren Bedürfnissen verändern konnten. Das dialektische und dann systemorientierte Denken trat aber dennoch seinen Siegeszug an. Im 20. Jahrhundert kamen zunächst Naturwissenschaftler z.B. über das Studium der Atome in der Teilchenphysik, der Astrophysik oder bei der Weiterentwicklung der Technik auf dem Gebiet der Kybernetik zu der Erkenntnis, dass die jeweiligen Elemente eines Systems miteinander in Wechselwirkung stehen, dass ein Rädchen ins andere greift und dass selbst die verschiedenen Blickwinkel und Messmethoden nicht ohne Einfluss auf das zu untersuchende Objekt bzw. System und nicht zuletzt auf das Untersuchungsergebnis bleiben und dass darüber hinaus verschiedene Systeme mit einander in Wechselwirkung stehen. Sicher nicht unabhängig davon kamen die Biologen auf die ökologischen Wechselwirkungen innerhalb der Natur, die Gehirnphysiologen, Neurologen, Psychologen und Humanmediziner zu ähnlichen Erkenntnissen, was die jeweiligen Organe und Verhaltensweisen des Menschen betrifft, die Gesellschaftswissenschaftler, Historiker, Soziologen und Wirtschaftswissenschaftler, entdeckten ebenfalls die Wechselwirkungen innerhalb ihrer Systeme. Das bedeutet, dass ernstzunehmende Wissenschaftler die jeweiligen Elfenbeintürme ihres Spezialgebietes verlassen müssen, um zu weiteren Erkenntnissen zu gelangen. Das funktioniert sicher nicht ohne den Austausch von gegenseitigem Respekt und den Willen, sein Wissen mit andern zu teilen.
Dass die Dinge und Lebewesen auf der Erde gewissermaßen von Natur aus global vernetzt sind, dass nicht nur jeder von uns nur ein Teil des Ganzen ist, sondern auch jede menschliche Gesellschaft und dass alle in ihrem Überleben auf einander angewiesen sind, macht sich am deutlichsten an der nicht mehr zu leugnenden Klimakatastrophe bemerkbar, vor der die Naturwissenschaftler schon in den 70er und verstärkt Ende der 80er Jahre gewarnt haben. Die Vertreter des entfesselten Kapitalismus im "Neoliberalismus" werden durch die materiellen Beweise der sich häufenden Hurricane und Flutkatastrophen darauf gestoßen,
Obwohl José Martí nicht das Ausmaß der jetzigen Klimakatastrophe voraussehen konnte, entwickelten Menschen wie er, die es in allen Kulturen und zu jeder Zeit gegeben hat, doch genau die global anwendbare Art zu denken und handeln, die wir jetzt so dringend wie nie benötigen.
Der kubanische Boden, der schon vom Blut seiner ausgerotteten Ureinwohner getränkt wurde, den Opfern seiner ersten Entdecker und Ausbeuter, hat aufgrund seiner geographischen bzw. politisch-strategischen Lage und seiner üppigen tropischen Schönheit, die seit ihrer Entdeckung die Begehrlichkeiten derer wecken, die glauben, sich die Erde untertan machen zu dürfen, den daraus vor Ort resultierenden gesellschaftlichen Spannungen und Unterdrückungsmechanismen im Kampf um die Freiheit, friedlich miteinander leben zu können, eine Persönlichkeit wie José Martí hervorgebracht, die tatsächlich schon im 19. Jahrhundert Ideen entwickelte, deren Verwirklichung zu Beginn des 21. Jahrhundert, dringender denn je sind:
Jeder Mensch, der von sozialer Gerechtigkeit träumt, von einer solidarischen Gesellschaft, braucht "das sozialpolitische Forschungslabor, Kuba" wie Heinz Dieterich Steffan es einmal nannte.
Allerdings haben diejenigen, die ihre Hoffnung auf Kubas Beispiel setzen, dann auch nicht das Recht, Kuba in seinem Kampf für ein menschenwürdiges Leben - nicht nur auf seiner eigenen Insel -, allein zu lassen.
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