Wochenendausgabe von "CounterPunch"

28.-30. September 2012

Ein erfundener Mord (Fortsetzung)

Das Wunder von Miami

Von Ricardo Alarcón de Quesada

Havanna

Am 25. Mai 2001, als sich der Prozess gegen Gerardo Hernández dem Ende zuneigte, reichte die Staatsanwaltschaft eine "Emergency Petition for Writ of Prohibition" [Dringlichkeitspetition] bei dem Appellationsgericht des 11. Bezirks in Atlanta ein. Die erste Überraschung war die Geschwindigkeit, mit der die Regierung dieses Dokument, das über vierzig Seiten umfasste - in weniger als ein paar Stunden - vorbereitet hatte. Hier ist beschrieben, um was es ging:

"Im Verlauf der Morgenstunden des 25. Mai 2001, nach sechs Tagen der Argumentation, hatte der Gerichtshof die Instruktionen für die Jury in der Angelegenheit abgeschlossen. Nach 13:00, noch am selben Tag, erhielten die Vereinigten Staaten eine Kopie des Schriftstücks über diese Instruktionen vom Bezirksgericht. Die Vereinigten Staaten hatten mehrere Einwände gegen diese Instruktionen." (Emergency Petition, Seite 3)

Am selben Nachmittag tat die Staatsanwaltschaft "den Schritt ohne Präzedenzfall, dieses Gericht um eine Unterlassungsanordnung zu bitten." (ebd. Seite 4 und 5)

Was war es, was die Staatsanwaltschaft dazu bewegte, um eine Unterlassungsanordnung zu ersuchen? Lassen Sie uns die Dringlichkeitspetition lesen:

"Dass das Bezirksgericht dahin gehend angewiesen werde, die Jury so zu instruieren, dass es ihr verwehrt ist, darüber zu befinden, ob der Angeklagte Hernández oder seine Mitverschwörer im Anklagepunkt Drei damit einverstanden gewesen seien, dass die Morde in dem besonderen maritimen und territorialen Bereich der Rechtsprechung der Vereinigten Staaten stattfinden sollten.

Dass es dem Bezirksgericht verboten sei, der Jury eine Musteranweisung für die Anklage auf Mord ersten Grades zu geben und die Jury so zu instruieren, dass sie den Angeklagten Hernández der vorsätzlichen Mordverschwörung für schuldig befinden müssten.

Dass es dem Bezirksgericht verboten sei, der Jury eine Theorie der Verteidigung wie die zum Anklagepunkt Drei vorzugeben, wozu eine Versorgung mit den ICAD-Abkommen und deren Vertragsanhang gehörten." (ebd. Seite 39 und 40)


Doch es geschah so, dass die Richterin nach der Abfassung der Instruktionen für die Jury einfach nur der Anklage folgte, die die Staatsanwaltschaft im Mai 1999 [wie folgt] formuliert hatte:

"der Angeklagte Gerardo Hernández beging in wissentlicher, willentlicher und gesetzwidriger Tateinheit Verschwörung im Verbund und mit Zustimmung von den der Anklagejury bekannten und unbekannten Personen, einen Mord, das bedeutet die gesetzwidrige Tötung von Menschen in böswilliger Absicht insbesondere auf dem maritimen und territorialem Gebiet der Rechtsprechung der Vereinigten Staaten, im Verstoß gegen Paragraph 18 des Strafgesetzes der Vereinigten Staaten, Absatz 1111." (Second Superseding Indictment [zweite "Nachfolgeklage" ?], Seite 14)

Man muss diese Regierungsanklage nur mit der Instruktion der Richterin vergleichen, um zu begreifen, dass die beiden identisch sind:

"Anklagen aus Punkt 3, dass der Angeklagte, Gerardo Hernández, sich mit anderen Personen zur Begehung von Mord verschworen habe, das heißt, der gesetzwidrigen Tötung eines Menschen in böswilliger und zuvor bedachter Absicht, insbesondere auf dem maritimen und territorialem Gebiet der Rechtsprechung der Vereinigten Staaten." (Gerichtsprotokoll vor der Ehrenwerten Joan A. Lenard, Seite 14587-14588)

Infolgedessen ordnete Richterin Lenard an, dass Gerardo

"nur in diesem Punkt der Anklage für schuldig befunden werden kann, wenn einer der folgenden Fakten über jeden Zweifel hinaus bewiesen ist.
Erstens: Dass die in der Anklageschrift benannten Opfer tot sind.
Zweitens: Dass der Angeklagte den Tod der Opfer in böser Absicht verursacht hat.
Drittens: Dass der Angeklagte es vorsätzlich tat.
Viertens: Dass die Tötung innerhalb des maritimen oder territorialen Einflussbereiches der Vereinigten Staaten geschah." (Ebenda, S. 14598-14599)

Wie konnte die Regierung eine Anordnung ablehnen, die ihrer eigenen Behauptung in dem Brief folgt?
Zwei Jahre waren vergangen seit die Regierung ihre unbegründete Verleumdung gegen Gerardo Hernández Nordelo losgelassen hatte, und während dieser Zeit hatte sie eine wilde Propagandakampagne organisiert und finanziert, mit der die Jury und die Zeugen, trotz des wiederholten Einspruchs der Richterin selbst, endlosem Druck ausgesetzt wurden. Seit Mai 1999 wurde Gerardo für schuldig erklärt, nicht nur von der Presse, sondern auch von der gesamten Obrigkeit und aller führenden Persönlichkeiten Miamis.
Innerhalb des Gerichtssaals allerdings löste sich der plump fabrizierte Vorwand unter den Argumenten der Verteidigung und der Zeugen beider Seiten auf. Angesichts ihres Fiaskos sah die Staatsanwaltschaft sich gezwungen, Einspruch gegen die Anordnung der Richterin einzulegen oder, was auf dasselbe hinauskommt, die eigene Anschuldigung zu verleugnen: "Im Licht der in diesem Verfahren vorgebrachten Beweise, stellt dies für die Vereinigten Staaten in diesem Fall ein unüberwindbares Hindernis dar und wird wahrscheinlich zu einem Scheitern der Staatsanwaltschaft in diesem Punkt führen." (Dringlichkeitspetition, S. 21).
Die Staatsanwaltschaft gab letztlich ihr Scheitern zu. Es war laut ihrer eigenen Worte eine "noch nie dagewesene" Aktion.
Das Berufungsgericht akzeptierte den Antrag nicht. Noch bewilligte es eine Vertagung des Verfahrens, welche die Staatsanwaltschaft ebenfalls beantragt hatte. Der Fall ging zurück nach Miami. Es wurde Zeit für die Jury, ein Urteil zu fällen.
Und das tat sie mit ungewöhnlicher Geschwindigkeit. Die Geschworenen stellten keine Fragen, noch äußerten sie den leisesten Zweifel. Es fiel nicht einem einzigen von ihnen ein, Klarheit über die "Emergency Petition for Writ of Prohibition" zu verlangen. Richterin Lenard hatte gesprochen. Sie [die Geschworenen] hatten Angst. Das ist der Grund, aus dem sie, angesichts der drohenden Mienen, ein letztes Mal vor den Kameras und Mikrofonen, die sie während so vieler Monate belagert hatten, das Urteil fällten, das von ihnen erwartet wurde.
Gerardo Hernández Nordelo wurde für ein Verbrechen, das es nicht gab, verurteilt, im Gefängnis zu sterben, für einen Vorfall, mit dem er überhaupt nichts zu tun hatte, für eine fabrizierte Anklage, von der die Staatsanwaltschaft selbst zugab, sie könne sie nicht beweisen und die sie versuchte zurückzuziehen.
Trotz ihrer Niederlage, hat die Staatsanwaltschaft gewonnen und erreicht, was sie wollte: einen unschuldigen Mann bestrafen und ihm sein Leben rauben. Am Ende des Tages geschah es in Miami.

Ricardo Alarcón ist der Präsident der kubanischen Nationalversammlung.

Deutsch: ¡Basta Ya! (jmb, db)

(Quelle: CounterPunch, Wochenendausgabe, 28.-30. September 2012)

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