Jenseits der Doppelmoral und HeucheleiVon Edward S. Herman, 1. November 2012
Die Doppelmoral hat uns immer begleitet, doch ich möchte wissen, ob sie und die Heuchelei im Zeitalter des "Kriegs gegen den Terrorismus" nicht zu neuen Höhen aufgestiegen sind, nämlich zu "humanitärer Intervention" und zu der proklamierten "Verantwortung zu beschützen" (R2P), anzuwenden von globalen Interventionisten, die Folter institutionalisiert (oder zur de facto legitimen politischen Option gemacht) haben, wie die "außerplanmäßige Auslieferung" an Folter-Regime, den intensiven Einsatz von Drohnen-Bombardements, einschließlich der "Doppelschlag-Aktionen" und die die gesamte Erde zur US-"feuerfreien Zone" erklärt haben?
Die selben Drohnenorganisatoren und deren Verteidiger sprechen beinahe täglich, und zwar während sie terrorisieren und töten, von "unseren Werten", sehen sich aber selbst so, als verteidigten sie Menschenrechte und Demokratie und widmeten sich der "Selbstverteidigung". George W. Bush griff den Irak wegen der (erfundenen) Furcht vor Saddam Husseins "Massenvernichtungswaffen" an, aber sobald es unausweichlich offenbar wurde, dass es sich um Betrug handelte und dass viele Tausende bereits aufgrund dieser Lüge getötet worden waren, durfte sich Bush im Irak für Freiheit und Demokratie einsetzen, jedoch aus unerfindlichen Gründen unter Vernachlässigung Saudi-Arabiens und Bahrains, und indem es im Heimatland heruntergespielt wurde. Doch seine Eröffnung mit einer Gambit-Kriegslüge war für die "New York Times" und ihre Kollegen sowie für Intellektuelle und Gurus mit Einfluss vermarktbar. So sagte zum Beispiel der frömmlerische Elie Wiesel am 9. Oktober 2002 bei der "Oprah Winfrey Show": "Alles andere ist besser als Krieg. Ich bin nicht für Krieg. Aber wir müssen diesen Meuchelmörder entwaffnen" - nämlich Saddam Hussein, der laut Bush, Cheney und Judith Miller sowie Wiesel und Winfrey diese WMD [Massenvernichtungswaffen] besaß. Daher lautete der Titel von Wiesels darauf folgendem Kommentar in "The Observer" (22. Dezember 2002): "Krieg ist die einzige Option". Es hilft, als heilig angesehen zu werden, um mit so einem eklatanten Widerspruch, der auf einer Lüge basiert, davonzukommen. Nachdem sich die "WMD-Gambit" erschöpft hatte, übernahm die Bande schnell die neue Devise zur "Demokratieförderung" im Irak, weil Bush sagte, es sei so, und indem er bei deren Aufoktroierung "alles riskierte", so, wie Michael Ingnatieff es in seiner "New York Times, classic" erklärte: "Who Are the American People to Think That Freedom is Theirs to Spread" [Wer sind die Amerikaner, dass sie denken, es sei ihre Sache, Freiheit zu verbreiten, Anm. d. Ü.] (7. Oktober 2005). George Packer hatte schon 2004 im "New Yorker" in Übereinstimmung mit Ignatieff geschrieben, dass "es klar ist, wenn auch bei plumper und selektiver Ausführung, dass Bush die Demokratisierung als sein Vermächtnis hinterlassen möchte. Wenn daher seine Kritiker hier und in Übersee geltend machten, dass seine Rhetorik nur ein zynischer Deckmantel für einen amerikanischen Griff nach der Macht liefere, tun sie seiner Ehrlichkeit Unrecht und neigen eher dazu, als Verteidiger des Status quo zu klingen. ("Invasion versus Persuation" [Invasion gegen Beeinflussung], "New Yorker", 20. Dezember 2004.) Daher weiß Packer wie Ignatieff, das Bush ehrlich war, aber er ist kein Verteidiger des Status quo und schlägt vor, dass wir "ihn bei seinem eigenen Wort nehmen" sollten. Die "Terrorismus"-Doppelmoral ist schon lange institutionalisiert, während Sprecher des Establishment die Propagandaregel internalisiert haben, dass wir und die Israelis den Terrorismus der Feinde und deren Ziele nur noch "rächen". Die Gurus des Establishment konnten eine Menge schlucken und sich auf breiter Ebene blöd stellen, um an diesem Brauch festzuhalten. Demzufolge spaziert Luis Posada Carriles, ein hoch angesehenes Mitglied des kubanischen Flüchtling-Terrornetzwerks, schuldig wegen zahlreicher Terroranschläge, einschließlich des Bombenattentats auf eine kubanische Zivilfluglinie von 1976 mit 73 Toten, heute frei durch die Straßen von Miami und steht über einer Auslieferung, wogegen die Vereinigten Staaten hart daran arbeiten, dass Julian Assange an dieses Land zwecks Strafverfolgung wegen "Whistleblowing" der US-Diplomatie und terroristischer Kriegsverbrechen ausgeliefert wird. (Seine berüchtigste Enthüllung war die gnadenlose Tötung von Zivilisten und Journalisten am Boden durch ein US-Helikopterteam, eine Enthüllung, die eindeutig, die nationale US-Sicherheit bedrohte.) Es sollte auch angemerkt werden, dass, während der Killer Posada frei ist, die fünf kubanischen Eindringlinge in terroristische Gruppen in Florida, die 1998 in den Vereinigten Staaten dabei gefasst wurden, als sie versuchten, Information über Terroranschläge gegen Kuba zu erlangen und Bestandteile dieser Information dem FBI mitteilten, seit 1998 inhaftiert gehalten werden und ihre konter-terroristischen Bemühungen in Spionage umgeformt wurden. Diese Manifestationen einer ekelhaften Doppelmoral, der Heuchelei und des schweren Unrechts werden von den Mainstream-Medien ignoriert und stören die Regel nicht, dass die Vereinigten Staaten einen "Krieg gegen den Terror" führten. Das jüngste Schaustück von September 2012 für die Terrorismus-Doppelmoral seitens des US-Außenministeriums ist die Entfernung der iranischen Oppositionsgruppe, der Mudschahedin el-Khalq (MEK), von der Liste der Terrororganisationen. Die MEK arbeitete früher für Saddam Hussein und tötete manchmal Amerikaner, und sie arbeitete, wie berichtet wird, mit den Israelis bei der Ermordung von iranischen Wissenschaftlern zusammen, aber angesichts zu der sich auf der unteren Ebene ausweitenden US-israelischen Kriegsführung gegen den Iran, kann die MEK in eine neue, positivere Kathegorie von "Freiheitskämpfern" eingestuft werden. Dies bringt noch andere amüsante Erscheinungen mit sich. Einerseits verfügt MEK über große Geldbeträge, die es für die Organisierung von Protesten und Lobby-Arbeit in Europa und den Vereinigten Staaten eingesetzt hat, die Spenden stehen in dem Verdacht, von den freiheitsliebenden Saudis und anderen dem Iran gegenüber feindlichen Regierungen zu kommen. Andererseits, auch während sie noch auf der Terroristenliste standen, konnte MEK Propaganda und Lobby-Arbeit in den Vereinigten Staaten und andernorts im Westen organisieren. Sie hatte auch beträchtliche Summen an angesehene US-Bürger gezahlt wie Howard Dean, Rom Ridge, Rudy Giuliani, Newt Gingrich und Ed Rendell, damit sie zu ihren Gunsten schrieben und redeten. In Fällen wie diesen stehen keine Strafverfolgungen wegen "materieller Hilfe" für Terroristen in Aussicht. Eines der Wunder des Krieges gegen den Terror ist der massive Einsatz der Luftstreitkräfte, die steigende Kriegführung mit Drohnen und die Fähigkeit der USA, den Westen dahinzubringen, dies als Antwort auf den Terror zu akzeptieren, statt als eigenen Terrorismus. Dies wurde natürlich von ergänzender Apologetik begleitet: insbesondere, dass die militärischen Ziele sorgfältig ausgesucht würden, sodass der Tod "unschuldiger" Zivilisten nicht erwogen wird, sondern nur unbeabsichtigter "Kollateralschaden". Aber wenn der Tod von Zivilisten vorhersehbar ist, besonders wenn die typischen Opfer unbekannt sind, werden die Tötungen in Kauf genommen und sind ein Kriegsverbrechen. Darüber hinaus, die Behauptungen über die Sorgfalt bei der Zielauswahl und der Besorgnis und das Abstreiten, dass manchmal die Tötung von Zivilisten akzeptiert werde, sind falsch, werden aber von patriotischen Experten und Intellektuellen als wahr genommen. (siehe mein "Tragische Irrtümer in der US-Militärpolitik: Die zivile Bevölkerung als Angriffsziel", Z Magazine, September 2002). Die langzeitige Anwendung von abgereichertem Uran und von Clusterbomben durch die USA zeugt von einer antizivilen Neigung in Militäroperationen, wie auch die lange Tradition von "wir zählen keine Körper". Der Irakkrieg 2003 begann mit einem Programm des "Schock und Ehrfurcht"-Bombardements, um die Führer und die Bevölkerung zu terrorisieren und zur Aufgabe zu zwingen. Das selbe galt für die Eskalation der Bombardierungen von Serbien 1999 und der zunehmenden Orientierung auf den Angriff auf zivile Einrichtungen. Aber das macht nichts: Die Vereinigten Staaten terrorisieren nicht, nach patriotischer und machtpolitischer Definition. Es ist auch bemerkenswert, dass Studien, die sich intensiv auf den Terrorismus aus der Luft konzentrieren, von den Mainstream-Medien ignoriert oder heruntergespielt werden. Das ausgezeichnete Buch von Beau Grosscup "Strategischer Terror: Die Politik und Ethik von Bombardierungen aus der Luft" (Z Books, 2006) wurde in keiner Mainstream-Quelle der Vereinigten Staaten rezensiert. Der Mainstream mag mit Terrorismus beschäftigt sein, aber die Berichterstattung darüber hat in der Umlaufbahn der Parteilinie zu bleiben, um gehört zu werden. Ein wirkliches Problem wurde den Medien durch einen Bericht bereitet, der im September 2012 gemeinsam von der juristischen Fakultät in Stanford und der juristischen Fakultät der New Yorker Universität erstellt wurde mit dem Titel "Leben unter Drohnen", der auf über 130 Interviews basiert, die in Pakistan geführt wurden. Die Autoren stellen fest, dass die überwiegende Mehrheit der Opfer von Drohnenangriffen Zivilisten sind, nicht "Militante" - nur 2 Prozent der Getöteten wurden als bekannte "Militante" identifiziert. Die Autoren aus Stanford und der NYU bestreiten explizit die offizielle Behauptung von den präzisen und operativen Schlägen durch Drohnen. "Diese Geschichte stimmt nicht." Sie berichten außerdem, dass der regelmäßige Gebrauch einer zweiten Rakete kurz nach dem ersten Schlag eine wichtige Besonderheit im Drohnenkrieg sei - die euphemistisch als "Doppelschlag" bezeichnete Kombination tötet viele lokale Schaulustige und Rettungskräfte, die den Opfern des ersten Schlags zur Hilfe eilen. Diese Zweitschläge "haben normale Zivilisten entmutigt, zur Rettung eines Anderen zu eilen, und sogar Maßnahmen der medizinischen Versorgung durch Rettungspersonal unterbunden." Der Direktor der karitativen Organisation Reprieve [Galgenfrist] wird in dem Bericht wie folgt zitiert: "Eine ganze Region wird durch die ständige Todesbedrohung aus der Luft terrorisiert ... Ihr ganzes Leben kollabiert ... Kinder sind zu verschreckt, um zur Schule zu gehen, Erwachsene haben Angst, zu einer Hochzeit, einer Beerdigung, einem Geschäftstreffen oder irgendetwas zu gehen, was mit Gruppenbildung zusammenhängt." Dies hört sich nach einem wirklich dreckigen Krieg DES Terrorismus' an, aber während dies im "London Independent" [Unabhängiges London] (Jerome Taylor, "Empörung über die tödlichen Drohnen-Doppelschläge' der CIA, 25. September 2012) behauptet wird, hat die New York Times bis zum Verfassen diese Artikels (30. September 2012) nicht einmal die Existenz des Dokuments "Leben unter Drohnen" erwähnt. Dies ist keine Nachricht, um schnell und mit Vorrang gedruckt zu werden, wie es geschah, als Außenministerin Hillary Clinton beteuerte, dass die Regierung von Baschar al-Assad "Blut an ihre Hände" bekäme wenn sie "diese lebensrettende Hilfe (die Clinton verspricht) nicht die Zivilisten erreichen lässt" (Steven Lee Myers, "Die Nationen tadeln die Führungskräfte Syriens während der Angriff wütet," NYT, 25. Februar 2012, S. 1; sehen Sie auch den langen NYT-Artikel vom 3. März 2012 "Syrien hindert das Rote Kreuz daran, Hilfe in die verwüstete Rebellen-Enklave in Homs zu bringen"). Das bringt uns auf einige andere Wunder der Doppelmoral. Der Iran befindet sich unter ständigen Angriffen und Bedrohungen wegen seines angeblichen Mangels an Kooperation mit dem Westen und dessen Instrument UNO, der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), bei deren Bemühungen, den Iran dahin zu bringen, sein nukleares Programm zu beenden. Inzwischen können sich die Vereinigten Staaten weigern ihr NPT-Versprechen [nach dem Atomwaffensperrvertrag] einzulösen, auf eine Eliminierung nuklearer Waffen hinzuarbeiten, und Israel kann in geheimer Absprache mit dem Westen und ohne jede Gerichtsbarkeit der IAEA ein ansehnliches Arsenal von nuklearen Waffen aufbauen, und beide können den Iran täglich bedrohen, in einer Doppelmoral, die kaum zu überbieten ist. Ähnlich kann Israel systematisch über Jahrzehnte ethnische Säuberungen an den Palästinensern begehen ohne jegliche Verurteilung durch die "Internationale Gemeinschaft", die in Wirklichkeit diesen unmoralischen und illegalen Prozess beständig unterstützt. Nur wenn ein Angriffsziel der USA und des Westens der ethnischen Säuberung bezichtigt wird, wie Serbien 1999, werden die westlichen Moralisten, Offiziellen und ihre UNO-Agenten aufgerüttelt und treten in Aktion. Die Hegemonie der Doppelmoral und ihr Partner, die Scheinheiligkeit, fließen aus der konzentrierten Macht und ihres gemeinsamen Erfolges in diesem modernen Zeitalter, das laut Steven Pinker (*) eines des "langen Friedens", der "Rezivilisierung" und des Aufstiegs unserer "besseren Engel" ist, nach einer unglücklichen Periode, wie die der 1960er. Dies ist eine wunderbare Illustration der menschlichen Fähigkeit zur Selbsttäuschung. Edward S. Herman ist Wirtschaftswissenschaftler und Medienanalyst und spezialisiert sowohl auf gesellschaftlich und behördliche Angelegenheiten als auch auf politische Ökonomie und die Medien. (*) Steven Pinker ist ein US-amerikanischer Wissenschaftler kanadischer Abstammung an der Harvard University Deutsch: ¡Basta Ya! (jmb, db) (Quelle: Dissident Voice vom 1. November 2012)
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