René González kennenzulernen - "für mich eine Erfahrung fürs Leben"

Mitgefangener Roddy Rodríguez erinnert sich an die Freundschaft mit einem der von der US-Regierung eingesperrten "Cuban Five"

(Auszug aus einem Sonderbeitrag von "The Militant", - Vol. 77/no. 20, für die Ausgabe vom 27. Mai 2013)

Rodolfo "Roddy" Rodríguez war gleichzeitig mit René González im Gefängnis, dem "Federal Correctional Institute" von Marianna, Florida, USA.
Er hatte ursprünglich zu den 128.000 Kubanern gehört, die im April 1980 als Bootsflüchtlinge von Mariel, seinerzeit in Reaktion auf die Behauptung der politischen Propaganda der Administration von US-Präsident James Carter, in die USA kamen, dass Havanna Kubaner daran hindere, die Insel zu verlassen.
Zur Feier der Freilassung von René González und zu Ehren aller Fünf folgen hier Auszüge aus einem einstündigen Interview von 2012, das "The Militant" aus dem Spanischen ins Englische übersetzt hat.

EDMUNDO GARCÍA: Auf die heutige Sendung haben wir alle schon eine Woche lang gewartet. Mein Gast ist Rodolfo Rodríguez. Er ist 55 Jahre alt und jeder nennt ihn nur Roddy.
Roddy, du kamst über Mariel in die USA.

RODOLFO RODRÍGUEZ: Das stimmt. Meine Odyssee in die Vereinigten Staaten begann 1980.

GARCIA: Roddy war im selben Gefängnis wie einer der kubanischen antiterroristischen Kämpfer und Helden der Republik Kuba, René González. Während etlicher Jahre zwischen 2004 bis zu Renés Entlassung 2011, lernte Roddy René kennen, und das hinterließ einen tiefen Eindruck in seinem Leben.
Wie begegnetetest du René?

RODRÍGUEZ: Ich kam 2002 im Gefängnis von Marianna an. 2004 hatte dann ein Hurrikan den Ort zerstört, und die Nationalgarde hatte uns von dort weg gebracht. Nach zwei Monaten gehörte ich zu der ersten Gruppe, die dahin zurück kamen. Die nächste Gruppe kam aus einem anderen Gefängnis, und zu der gehörte René.
Ich wurde ihm von einem kubanischen Mitgefangenen vorgestellt, der sagte: "Hei, Mann, lass mich dich einem Spion vorstellen." Jeder nannte sie dort "Spione" - so war es eben, und auf die Art wurden sie angesehen. Dessen waren sie ja auch angeklagt worden, obwohl sie nie in Spionage verwickelt gewesen waren.
So begegnete ich René, und ich kann wirklich sagen, es war eine der Freundschaften, die mein Leben veränderten.
Ich glaube an Gott, und im Gefängnis wurde ich als derjenige betrachtet, der die Religion einbrachte. Ich muss dir das sagen, damit du das Folgende verstehst.
Als ich René zum ersten Mal traf, sagte ich ihm ohne Umschweife, dass ich an Gott glaube. Ich erwartete, René würde das aufgreifen und anfangen, mit mir zu debattieren.
Was geschah? Er antwortete: "Das ist großartig. Ich nicht. Aber ich glaube, dass wahre Christen nur das Beste für die Menschheit wollen, und wenn dir meine Freundschaft hilft, ein besserer Christ zu werden, werde ich mich glücklich schätzen."
Das machte mächtig Eindruck auf mich.
Also, so begann unsere Freundschaft. Wir wohnten 2 Zellen von einander entfernt. Wir waren keine Zellengenossen, weil jeder von uns zu viele Sachen hatte - insbesondere Bücher - als dass sie in die selbe Zelle gepasst hätten. Wir sahen einander, wann immer die Türen geöffnet waren, außer wenn René laufen ging. Es war nicht leicht, mit ihm Schritt zu halten - er lief viel.
Es war mein Verhältnis zu René, das meine Denkungsart änderte. Ich begann, die Sachen selber zu überdenken, und schließlich wurde ich überzeugt.
Im Gefängnis begegnete ich Leuten aus verschiedenen Ländern - aus Respekt möchte ich nicht sagen aus welchen - und es tat mir weh zu bemerken, dass einige weder lesen noch schreiben konnten. Dann dachte ich über die Kubaner nach - sogar die, die hier waren - und ich sagte mir: "Wow, es gibt keinen einzigen unter ihnen, der nicht lesen kann! Ich komme aus einem gesegneten Land."
Jetzt erkenne ich die positiven Seiten Kubas, die ich vorher nicht gesehen hatte. Und das alles begann ich dank René zu verstehen.
René ist ein Mann mit Prinzipien, wie alle Fünf. Er pflegte mir zu sagen: "Prinzipien haben keinen Preis, denn, wer immer welche hat, wird sie nicht verkaufen, und wer sich verkauft, hat keine Prinzipien." Ich glaube, ihre Prinzipien haben ihnen geholfen, in den Gefängnissen, wo sie jeweils waren, so populär und respektiert zu werden.
Ich werde die Zeit nie vergessen, als René mir ein Buch mit Bibelgeschichten aus der Bücherei holte. Er fragte mich: "Möchtest du, dass wir dieses Buch gemeinsam lesen?" Es war auf Englisch - ich kann Englisch zwar lesen, aber er kann es gut - und er begann, es mir ins Spanische zu übersetzen. Wir lasen das ganze Buch - die Geschichte über Abraham und alles.
Solche Sachen zeigten mir, dass René kein Fanatiker war, dass er seinen Prinzipien treu war. Er lebt, was er sagt. Du kannst ihm sagen, was du denkst, ohne ihn gegen dich aufzubringen. Er respektiert deine Gedanken. "Du hast ein Recht zu sagen, was du denkst," sagte er immer. "Genau wie ich das Recht habe, auf meine Art zu denken."

GARCÍA: Hatten andere Gefangene den gleichen Respekt vor ihm?

RODRÍGUEZ: Ich denke alle. Ich werde diesen jungen schwarzen Kerl nie vergessen, seinen Zellengenossen, der einen politischen Rap über die USA komponierte, und er sang ihn im Hof allen vor, wo wir zu besonderen Anlässen wie zum 4. Juli oder zu Heiligabend Veranstaltungen abhielten. Ich kann dir nicht mehr genau sagen, welche politischen Ideen er vertrat, aber ich denke, dass er vielleicht von seiner Beziehung zu René dazu angeregt worden war, die Sache der Fünf zu verstehen. Viele Leute wussten nicht, was um die Fünf herum passiert war, und wenn sie davon erfuhren, waren sie überrascht. Wir hatten sogar ein T-Shirt mit dem Symbol der Fünf und dem Stern der kubanischen Flagge.

GARCÍA: Was machten sie in jenen Jahren an einem der üblichen Tage?

RODRÍGUEZ: René lief viel, wie ich schon sagte. Und wenn er nicht rannte, dann las er. Man konnte aus der Post, die er bekam, die Solidarität ablesen, die er aus aller Welt erhielt. Es gab einen Moment, auf den wir jeden Tag warteten, wenn wir die Tonnen von Briefen, die ankamen, sehen konnten, und alle an eine Adresse - an Renés - aus Australien, Russland, China, von überall her. Einige Mitgefangene sagten dann zu ihm: "Hör ' mal, heb mir die Briefmarken auf." Tatsächlich habe ich auch selber eine Menge davon.
Er bekam immer eine Menge Briefe aus Kuba - wie von Leuten der Kirche, sogar von Gefangenen. In einem Gefängnis der Provinz Granma organisierten einige Insassen eine Unterstützungsgruppe für die Sache der Fünf. Dazu gehörten sogar zwei Gefängnisbeamte, ein Kapitän und ein Leutnant.

GARCÍA: Waren einige der Kubaner in Marianna auch feindselig gegenüber René?

RODRÍGUEZ: Man könnte sagen, sie waren nicht so feindselig gegenüber René wie zu sich selbst, weil sie in seiner Anwesenheit Dinge sagten, die verletzend sein konnten oder schockierend. Zum Beispiel sagte irgendwer, ich erinnere nicht wer, eines Tages: "Meine Mutter ist in Havanna zu einer Katarakt-Operation gegangen und musste ihr eigenes Handtuch und ihre eigenen Betttücher mitbringen."
Gut, wie Petrus in der Bibel, der vorwärts schritt mit dem Schwert in der Hand, sprach ich immer zuerst. "Tatsächlich," sagte ich, "und wieviel musste sie für die Operation bezahlen?"
"Sie musste ihre eigenen Betttücher mitbringen. Es wäre empörend gewesen, wenn sie auch noch hätte zahlen müssen," antwortete er.
"Du hast recht," sagte ich, "als wir meinen Vater zu einer Katarakt-Operation in das Beraja Medical Institute in Miami brachten, mussten wir keine Hand- und Betttücher mitbringen. Aber wir mussten 1.200 $ für jedes Auge bezahlen. Ich weiß nicht, wieviele Schachteln Betttücher man dafür kaufen kann. Würdest du lieber Betttücher mitbringen als 2.400 $ bezahlen?"
Dann erzählten sie mir jede Art von Blödsinn.

GARCIA: Was machte René in solchen Diskussionen?

RODRÍGUEZ: Er hat gelacht. Aber dann gab er einen Kommentar ab, den ich sehr gut fand - und ich benutze ihn in Unterhaltungen selbst. "Schau," sagte er, "das Problem ist, deine Diskussion basiert auf Dingen, die du gehört hast und nicht gesehen. Sieh dir die Realität an, sieh auf den gesamten Prozess, verfolge ihn bis zum Schluss."
"Denk daran: wie ist Kuba im Vergleich zu anderen Ländern? Jeder will Kuba mit dem Norden [den Vereinigten Staaten - Anm. d. Ü.] vergleichen," pflegte er zu sagen.
Und es ist wahr, man kann einen solchen Vergleich nicht anstellen. Ich war in einem Einwanderungsbüro und sah Kanadier, Australier, Chinesen - alle wollten in die USA kommen, weil dort das ganze Geld ist, was der gesamten Welt genommen wurde. Ich habe niemals einen Bootsflüchtling gesehen, der nach Süden fuhr, Richtung Guatemala. Sie wollen alle hierher kommen. Ihr Ziel ist nicht, Kuba zu verlassen, sondern hierher zu kommen.

GARCÍA: Erzähl uns ein wenig, was du und René in der Freizeit taten.

RODRÍGUEZ: Es gab keine Freizeit. Es ärgerte René, wenn jemand sagte: "Ich schlage meine Zeit tot." Er schlug niemals die Zeit tot. Er saß auf einem Stuhl mit den Füßen auf dem Bett - ich weiß nicht, wie er so lesen konnte - und er verschlang Bücher. Ich dachte, ich sei ein Leser. Aber wenn ich sah, wie er las... und ich rede auch von schwierigen Büchern.

GARCÍA: Hast du Renés Familie kennengelernt?

RODRÍGUEZ: Ja, es war ein Segen, seine Familie zu treffen. Ich traf Irma, Renés Mutter. Die Prinzipien dieser Frau sind unglaublich. Sie inspiriert alle, die sie treffen.
Ich traf seine ganze Familie außer [Renés Ehefrau] Olguita, obwohl sie und ich eine Menge über E-Mail miteinander korrespondierten, als ich im Gefängnis war, obwohl ich eingeschränkt bin.

GARCÍA: Lass mich unseren Zuhörern erklären: Roddy und René ist unter den Bewährungsauflagen, denen beide unterliegen, als ehemalige Gefangene nicht erlaubt, miteinander zu korrespondieren. Aber es ist kein Problem für Roddy, hier mit mir und den Zuhörern zu sprechen.
Als die Familie zu Besuch war, konntest du da ihre Liebe zu René sehen?

RODRÍGUEZ: Ja, und es war unglaublich, ihn mit seinen Töchtern Irmita und Ivette zu beobachten. Aber du hast etwas berührt, was eine Schlüsselrolle bei dem spielte, was ich als meine mentale Metamorphose bezeichne. Es war nicht nur wegen der Familie. Es war auch zu erfahren, wie ganz Kuba Renés Sache unterstützte, die Sache der Fünf. Das hat tiefen Eindruck bei mir hinterlassen.

GARCÍA: Wie behandelten die Wärter René?

RORÍGUEZ: Ich glaube, jeder respektierte ihn. Außer einem Beamten, den wir "Nervensäge" [pain in the butt - eigentlich: Schmerz im Hintern - Anm. d. Ü.] nannten, aber er war zu fast jedem so.
Ich erzähle dir eine Geschichte, ich kann sie jetzt erzählen, weil die darin verwickelte Person nicht mehr dort ist. Unter den Gefängnisbeamten gab es einen Leutnant, einen Schwarzen, der an unseren Tisch im Essraum kam. Der Wärter schüttelte René die Hand und sagte: "Wir unterstützen Ihre Sache." Ich glaube privat war er Moslem. Aber in Uniform, vor den Augen aller, schüttelte er René die Hand.

GARCÍA: Was hat dir René gesagt, was er tun will, wenn er zurück in Kuba ist?

RODRÍGUEZ: Gut, eins, worauf wir uns geeinigt haben ist, dass er und ich den Pico Turquino (Kubas höchsten Berg) besteigen wollen. Gemeinsam mit Olguita und meiner Frau Sandra. Sandra war noch nicht wieder in Kuba, sie reiste aus, als sie fünf war und ging bisher nicht zurück. Aber wir machen Pläne, und sie hat einen kubanischen Pass.

GARCÍA: Du bist auch nie nach Kuba zurückgekehrt, Roddy.

RODRÍGUEZ: Unglücklicherweise nicht. Aber schließlich werde ich, und wenn ich da bin, werde ich es nicht wieder verlassen.

GARCÍA: Erschien René jemals traurig oder deprimiert?

RODRÍGUEZ: Nein, niemals. Ärgerlich, ja - bei seltenen Gelegenheiten, weil er sich nicht leicht verrückt macht. Es gibt eine totale Brüderlichkeit zwischen ihnen [den Cuban Five]. Es gibt eine Redensart "tun ist die beste Form von sagen", und die Fünf leben getreu nach dem, was sie verfechten.

GARCÍA: Waren andere Nichtkubaner interessiert an der Angelegenheit, in die René verwickelt war?

RODRÍGUEZ: Einige. Viele setzten sich zu ihm, und er sprach mit ihnen.
Viele Insassen kamen häufig zu René und baten ihn um Hilfe. Er war stets bereit, etwas ins Englische zu übersetzen, half, rechtliche Formulare auszufüllen, oder etwas aus der Bibliothek zu bekommen.

GARCÍA: Zu einem bestimmten Zeitpunkt, bevor René auf Bewährung entlassen wurde, wurdest du in ein anderes Gefängnis verlegt.

RODRÍGUEZ: Das stimmt. Der Abschied war ein großer Augenblick. Ich habe viele Brüder in der Kirche - heute bin ich evangelischer Lehrer und werde bald zum Seelsorger ernannt - und ich liebe sie sehr, und es gibt unter ihnen viele, von den ich gelernt habe. Aber für mich war eine der größten Erfahrungen meines Lebens, René kennenzulernen. Ich habe das meiner Familie, meiner Frau, meinen Eltern erzählt, die übrigens nicht mehr so denken wie einst. Sie haben begonnen, die Realität zu verstehen, weil die Wahrheit zu groß ist, um sie zu verbergen.

GARCÍA: René hört dieser Sendung zu. Hast du eine Botschaft für ihn?

RODRÍGUEZ: Ich möchte, dass er weiß, dass ich immer noch derselbe bin. Er ist in meinen Gebeten. Und ich danke ihm dafür, dass er mein Freund ist.

Deutsch: ¡Basta Ya! (jmb, db)

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