Sehr geehrte Freundinnen und Freunde:
In der Anlage schicken wir Euch den Brief des Friedensnobelpreisträgers, Adolfo Pérez Esquivel, an den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Nordamerika.
Übersandt durch: Armando Rama Martell
Capítulo Cubano "En Defensa de la Humanidad"
[Kubanisches Kapitel "Zur Verteidigung der Menschheit"]

An den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika
Herrn George W. Bush

Ich kann Ihnen keine frohen Weihnachten wünschen und nicht, weil ich es nicht möchte, sondern weil Sie es mir unmöglich gemacht haben.
Heute ist ein ganz besonderer Tag für alle Christen, es ist der Tag, an dem wir Weihnachten feiern, die Ankündigung froher Zeiten: ein Moment, an dem wir in uns gehen, in unser persönliches Leben und über die Richtung nachdenken, die die Menschheit nimmt. Wenn wir zu unserem Schöpfer beten, können wir nicht die Geschehnisse um uns herum ausblenden, den Schmerz und die Tragödie in vielen Teilen der Welt, hervorgerufen sowohl durch Naturkatastrophen als auch durch die Hand des Menschen und wir nehmen wahr, wie weit wir von der Erlangung des Weltfriedens entfernt sind und, dass wir, um ihn zu erreichen unsere Bemühungen verdoppeln müssen.
Die Welt ist ein viel unsicherer und turbulenterer Ort geworden. Die Ungleichheit hat sich vertieft, Hunger und Elend haben zugenommen, während die Macht sich immer mehr auf wenige Privilegierte konzentrierte und sich die Konflikte in verschiedenen Teilen der Welt vervielfacht haben.
Ich glaube, dass Sie, Herr Präsident auf Ihr Werk blicken und erforschen sollten, was geschehen ist, auf die Politik der Verheerung und des Todes, die Sie über etliche Teile der Welt gebracht haben.
Ich durchlebte Gefühle der Bitterkeit und der Qual angesichts der Nachrichten, die weltweit durch die Medien verbreitet werden, über amerikanischen Soldaten, die Weihnachten mit seinem erneuten Appell für das Leben und den Frieden feiern. Dies sind die selben Soldaten, die in Dörfern im Irak und in Afghanistan Tod und Zerstörung verursachen, die ihre Gefangenen foltern und vergewaltigen.
Sie sind es, die für die Massaker an über Hunderttausend Menschen im Irak verantwortlich sind - Frauen, Kinder, unter ihnen sind junge und ältere Menschen; sie haben [die Soldaten] Falluja verwüstet und zerstört, und wir kennen immer noch nicht das Ausmaß der Massaker in Afghanistan: Die Zahlen werden von den Medien verschwiegen, die statt für die Überbringung von Information zu sorgen, nun unglücklicherweise mit Desinformation zu handeln scheinen.
Und, als ob es um eine Riesenparty ginge, sind sowohl aus den Vereinigten Staaten als auch aus Großbritannien Entertainer und Regierungsbeamte dorthin gekommen, um mit den Truppen Weihnachten zu feiern und sie darin zu ermutigen, mit ihrer vernichtenden Mission der Zerstörung und des Todes fortzufahren.
Wir müssen uns fragen, was sie dort feiern wollen. Der wahre Sinn des Weihnachtsfestes fehlte völlig; er wurde völlig entleert und nur auf das profane "Ho! Ho! Ho!" der Konsumgesellschaft reduziert; oder vielleicht feierten sie, wie viele Bombenangriffe und Tote aus ihrem Bewusstsein ausradiert wurden.
Sogar der phantastischste, magischste Surrealismus verblasst zur Bedeutungslosigkeit neben der Grausamkeit, die Sie im Irak und in Afghanistan entfesselt haben.
Nach den Befehlen, die Sie, Herr Präsident, in einem Dokument vom 19. Mai gegeben haben, das 2004 vom FBI veröffentlicht wurde, haben Sie zur Anwendung von Verhörtechniken, wie Schlafentzug, der Bedrohung durch militärisch gedrillte Hunde und zum Gebrauch von Kapuzen ermächtigt. Dies zeigt, dass Sie eine grausame Person sind, die keinen Respekt vor menschlichen Wesen hat, und dass Sie nicht zögern werden, jedes nur mögliche Mittel anzuwenden, um Ihr Ziel zu erreichen, wobei Sie systematisch die Menschenrechte verletzen, wie Sie es bereits taten.
Es scheint, als hätten Sie keine Pläne, diesen Methoden in den nächsten vier Jahren ein Ende zu setzen. Laut der Washington Post zieht Ihre Regierung in Erwägung, Gefängnisse zu bauen, in denen diejenigen, die der Terrorakte angeklagt wurden, auf unbestimmte Zeit und ohne Gerichtsverfahren festgehalten werden: dies verletzt sogar die Verfassung der USA, ganz zu schweigen von den Menschenrechten. Das Verteidigungsministerium hält zurzeit 500 Gefangene in Guantanamo Bay, Kuba, fest, und es plant den Kongress um 25 Millionen Dollar zu bitten, um ein Gefängnis für Gefangene zu bauen, die, wegen des Mangels an Beweisen, wenig Aussicht darauf haben, jemals vor einem Militärgericht zu erscheinen.
Der Anschlag auf die Twin Towers rechtfertigt die Gräueltaten, die Sie begangen haben, in keinster Weise: Zwei Fehler heben sich gegenseitig nicht auf, wie ich in meinem letzten Brief vom 6. Januar, 2003 schon ausführte.
Ich möchte sie fragen, Herr Präsident, wie haben Sie Weihnachten gefeiert, den Tag der Geburt des Lebensspenders? Ich möchte wissen, zu welchem Gott Sie beten. Ich bezweifle, dass es der Spender des Lebens, des Friedens und der Hoffnung ist. Ich denke, dass, wenn Gott Ihre Gebete hörte, er sich die Ohren zuhielte, damit er sich nicht so viel Grausamkeit und so viele Lügen anhören müsste.
Da die Bürger, die sie zuerst in Ihr Amt gewählt haben, Sie für weitere vier Jahre wiedergewählt haben, wird der 20. Januar Ihre zweite Amtszeit eröffnen als Präsident des großen Landes, das die Vereinigten Staaten von Amerika sind. Ich bedaure diese Menschen und die Welt. Viele Faktoren beeinflussten dieses Ergebnis, die Tatsache, dass Ihr Gegner nicht in der Lage war, dem amerikanischen Volk eine überzeugende Alternative zu bieten.
Es gibt eine Redensart, die besagt: "lieber den Teufel, den man kennt, als den, den man nicht kennt." Das amerikanische Volk ist von Furcht und Unsicherheit niedergedrückt; in manchen Gebieten ist der Puritanismus lebensbestimmend, der verteidigt werden muss. Individualismus verhindert, dass ihre umfassenden tiefen Gefühle der Solidarität zum Ausdruck kommen.
Das Traurigste an dieser Situation ist, abgesehen von einigen Gebieten, in denen man sich kritisch bewusst auseinandersetzt und selbständig denkt, dass die Menschen, die für Sie gestimmt haben, Herr Präsident, diejenigen sind, die aus Angst ihre Freiheit und ihre Bürgerrechte aufgeben. Das Bewusstsein dieser Menschen ist verblendet, und sie sind psychologischen Techniken ausgesetzt, die ihr kollektives Verhalten konditionieren. Diese Methoden werden von totalitären Regimen, wie den Nationalsozialisten, Faschisten und den Militärdiktaturen eingesetzt, die Lateinamerika aufgezwungen wurden und die Mittel geschaffen haben, Menschen zu manipulieren und sie zu zwingen, sich durch Hervorrufung von Furcht und die Anwendung von Terror der Gewalt zu unterwerfen.
Macht ist die schlimmste aller Drogen, sie blockiert Visionen und das Denken und, schlimmer noch, sie verhärtet die Herzen, betäubt die Gefühle. Die große Tragödie, die die Menschheit befallen hat, sind Gedanken ohne Gefühle.
Es sind selbst die mächtigsten Reiche gefallen, und die Vereinigten Staaten bilden keine Ausnahme. Sie sollten erkennen, dass ein Monopol der Stärke keine Garantie für Sicherheit bietet.
Kein Terrorismus, woher er auch kommen mag, rechtfertigt den Staatsterrorismus, den Sie einsetzen, um Zivilbevölkerungen anzugreifen - der Einmarsch in Länder, wie der Irak und Afghanistan, das Embargo, das Sie Kuba über fünfundvierzig Jahre lang aufgezwungen haben, die Militärinvasion in Haiti, wobei alle internationalen Verträge und die Souveränität der Völker verletzt wurden. Durch die Missachtung der Vereinten Nationen ist es zu einer leeren Patronenhülse geworden.
Herr Präsident, wie lange wollen Sie in Ihrem Wahnsinn von Zerstörung und Tod fortfahren? Wie viele Pläne für Verbrechen haben Sie noch im Hinterkopf? Vergessen Sie nicht, dass Sie das ernten, was Sie säen.
Nach Berichten sind bis jetzt über 1.000 amerikanische Soldaten im Irak gestorben. Wir wissen nicht, wie viele sonst noch in Afghanistan gestorben sind.
Was sagen Sie zu deren Familien? Geben Sie ihnen zur Erinnerung an ihre Lieben eine Medaille, eine Pension und eine hübsch gefaltete Flagge?
Werden Sie weiter lügen und von Freiheit sprechen? Sagen Sie, um Ihre Verbrechen zu rechtfertigen, dass sie zur Verteidigung der Demokratie und ihres Heimatlandes gestorben sind?
Verheimlichen Sie ihnen die Tatsache, dass Sie diese Kriege begannen, weil es Ihnen gefiel, Besitz von dem Öl im Irak zu ergreifen und den Mittleren Osten zu kontrollieren?
Herr Präsident, in diesen vergangenen Tagen habe ich an einen Vietnamkriegsveteranen gedacht, der angesichts der Grausamkeiten, die von amerikanischen Truppen in diesem Land begangen wurden, eine totale Bekehrung durchlebte und sein eigenes Leben riskierte, um das Leben anderer zu retten, wobei er beide Beine verlor. Ich beziehe mich auf Brian Wilson.
Auf dem Höhepunkt des Krieges glaubte er, er kämpfe für Freiheit und Demokratie, er verteidigte es, "Amerikaner zu sein", er entdeckte die Wahrheit und ihm wurden die Grausamkeiten bewusst, die gerade von amerikanischen Soldaten begangen wurden, als er die Wirkung der "Cluster-Bomben" (derselbe Typ, der in Afghanistan und im Irak eingesetzt wurde) auf die vietnamesischen Dörfer sah, die von einer Patrouille aufgesucht wurden, um sie zu inspizieren: Frauen, Kinder, Tiere, alle waren in Stücke zerrissen, keine Person oder Sache überlebte.
Ich denke oft an Brian. Wir trafen uns während einer CIA-Aggression in Nicaragua. Wir waren zusammen im Hungerstreik auf den Stufen des Capitol-Gebäudes, gemeinsam, mit anderen Vietnamveteranen und versuchten, der US-Aggression gegen Nicaragua und El Salvador ein Ende zu setzen.
Es war ein aktiver, nichtgewaltsamer Protest zur Verteidigung des Lebens und des Rechts auf Selbstbestimmung der Völker. In der Nacht schliefen wir in der lutheranischen Kirche, und Brian und die anderen Kriegsveteranen pflegten über ihre Erlebnisse in Vietnam zu erzählen. Die Schrecken, die sie immer noch sehen und fühlen können, haben sie für den Rest ihres Lebens verängstigt. Diese Menschen sind Zeugen der menschlichen Tragödie.
Herr Präsident, hören Sie auf das Gebrüll der Menschen, die rufen NIE MEHR KRIEG!!
Abraham Lincoln sagte vor über Hundert Jahren, dass, wenn es den Vereinigten Staaten nicht gelänge, gute Verbindungen mit anderen Ländern zu schmieden, würden sie zu Opfern der Selbstzerstörung. Lesen Sie die Rede von Kennedy vor den Vereinten Nationen von 1960, in der er Lincolns Gedanken wiederholt. Sie wären gut beraten, sich an diesen Grundsatz zu erinnern.
Am 20. Januar werden Sie vier weitere Jahre im Amt beginnen. Wenn auf dem bis jetzt beschrittenen Pfad weiter gegangen wird, könnten die Konsequenzen daraus unvorhersehbar sein. Vergessen Sie nicht, dass Völker den Lauf der Geschichte ändern können.
Es verbleibt mir nur noch zu sagen, dass andere Kulturen, andere Religionen, andere Menschen das selbe Recht auf Leben und Würde haben. In den Augen des Schöpfers sind sie unsere Brüder und Schwestern und daher fordern wir: KEINE WEITEREN MASSAKER, Mr. Präsident. Die Welt darf nicht der Gnade Ihres Willens ausgeliefert sein.
Gerechtigkeit, wenn auch spät, wird siegen, und Sie werden der Sache nicht entgehen, dass Sie sich der Verbrechen an der Menschheit schuldig gemacht haben.
Ich wünsche Ihnen Frieden und Wohlergehen, in der Hoffnung, dass Ihr Herz und Verstand von Mitleid gerührt wird.
15. Dezember, 2004
6. Januar, 2005-01-23
Adolfo Pérez Esquivel
Friedensnobelpreisträger

Deutsch: ¡Basta Ya!

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