René

 

Brief von René vom 22. Juli 2005

Liebe Freunde,

zuerst möchte ich mich für diese Einladung bedanken, den Anwesenden meine Erfahrungen mit Terroranschlägen mitzuteilen, die mein Land Kuba seit über 45 Jahren verwüsten, und ich muss dazu sagen, dass, wenn sie das Folgende hören, es nicht als eine persönliche traumatische Geschichte bezeichnet werden kann.
Ich wuchs in einer sich im stürmischen Umbruch befindenden Gesellschaft auf, in der man meine Bewusstwerdung als eine durch die Polarisation der revolutionären Medien geprägte ansah: Auf der einen Seite diejenigen, die sich mit ihren engstirnigen Interessen mit denen des mächtigen Nachbarn identifizierten - auf der anderen die große Mehrheit, die sich mit der Revolution, ihren Erwartungen und Rechten identifizierten und die durch die Jahre vor 1959 frustriert waren.
Während die ersteren sich unmittelbar in Instrumente der Aggression und des Terrors verwandelten und von der ausländischen Macht alle logistische Unterstützung, Vorsorge und Finanzierung erhielten, womit sie ihr eigenes Volk in Trauer versetzten, organisierten sich die anderen, um ihre Errungenschaften zu verteidigen, ohne dabei die Gelassenheit zu verlieren und verteidigten die Revolution mit Standhaftigkeit, aber ohne Ausschreitungen und indem sie die Gesetze anwandten und deren Missbrauch verhinderten: Statt die Opfer zu demoralisieren, stellten sie das Opfern an sich als unmenschlich dar.
Von daher war unsere Erfahrung nicht traumatisch zu nennen. Unsere Erwachsenen achteten unsere Unschuld als etwas Heiliges und waren in der Lage, die Kindheit meiner Generation von den schlechten psychischen Folgen des Konfliktes fernzuhalten. In den eisigsten Jahren der durch die nordamerikanische Regierung gegen Kuba organisierten terroristischen Kampagne drangen die Echos des Konfliktes nur gedämpft zu uns, so, als ob das alles in irgendeinem fernen Land geschähe.
Für die kubanischen Kinder der 60er Jahre waren die mit Sabotagen, Attentaten, Aggressionen und Morden verbundenen kriminellen Terroranschläge wie isolierte Ereignisse, die bei uns abgeschwächt ankamen, inmitten des Enthusiasmus', der Leidenschaft und des Patriotismus', womit die Generation unserer Eltern sich in den Aufbau jener Gesellschaft einbrachte. Wir waren keinen grellen Farben ausgesetzt. Unsere Straßen wimmelten nicht von mit ihrer Präsenz prahlenden schwerbewaffneten Polizisten. Man bombadierte uns nicht ständig mit der terroristischen Bedrohung. Wenn ein Volk an der Macht ist, organisiert es sich und stellt sich dem Terrorismus mit Geistesgegenwart. Es braucht keine Manipulation.
Aber offensichtlich ist es unmöglich, jemanden vollständig von seiner Umgebung zu isolieren, selbst, wenn es sich um ein Kind handelt. Da kann man an Tagen mit guter Sicht vor dem Malecón in Havanna das Mutterschiff "Rex" beobachten, das wie ein Aasgeier an der Grenze der Hoheitsgewässer darauf wartet, dass die Nacht hereinbricht, um seine Unterwanderungsoperationen zu starten. Eines Tages erwachten wir mit der Nachricht, dass ein Hotel von einem Schiff aus bombadiert worden war, ohne dass ich mir vorstellen konnte, dass ich 30 Jahre später José Basulto in Miami kennen lernen würde, den, nach wie vor in terroristischen Aktivitäten verwickelten, Urheber.
Mit der Zeit kam meine Generation mit der Aufgabe in Berührung, sich dem Kampf gegen den Terrorismus anzuschließen.
In den 70er Jahren tat es mein kaum erwachsener Bruder, der zu einem Freiwilligenkorps gehörte, das man mit der Sicherheit von Kinos beauftragte.
Dessen Aufgabe bestand darin, sich wie irgendwelche Zuschauer im Saal zu verteilen und durch Beobachtung des Raumes sicherzustellen, dass keine Sabotagehandlungen durchgeführt werden.
Ein um's andere Mal meldete mein Bruder nach seiner Rückkehr "wieder eine Bombendrohung". Der Befehl lautete immer: "Hier darf keine Bombe explodieren" und "wir werden keine Vorstellung streichen." Und den Befehl befolgte man. Und die Vorstellung wurde gegeben.
Wenn ein Volk 45 Jahren des Terrors unterworfen ist, lernt es, mit seinen Gefühlen zu leben. Mit negativen und positiven: Bewunderung für die entführten Fischer, die nach ihrer Rettung mit der kubanischen Fahne ihres Schiffes zurückkehrten; gesunder Neid für die Jungen der Mittelstufe, die unter Einsatz ihres eigenen Lebens etliche Kinder aus dem in einem Kindergarten gelegten Feuer retteten. Solidarität mit den Nachbarn von Casilda oder Boca de Samá [zwei Orte an der kubanischen Nordküste, Anm.d.Ü.], die mit Maschinengewehren von in Florida registrierten Schiffen aus beschossen worden waren. Wut wegen des jungen Mädchens, dem, während es in seinem Elternhaus saß, sein Bein von so einer Kugel abgerissen wurde. Gemeinsames und bei den Männern innerliches Weinen, das von den Opfern des Flugzeuges zurückblieb, das in Barbados zur Explosion gebracht worden war.
Deshalb hatte ich, als der Moment gekommen war, keine Bedenken, nach Miami zu gehen und dort in dessen Brutstätte diejenigen zu bekämpfen, die Kuba so viele Jahre lang mit einer brutalen und hochterroristischen Kampagne überzogen hatten.
Und - inmitten der Mission - der Kampf der eigenen Gefühle! Wie diskutierst du den Abschuss einer Ladung Sprengstoff aus einem Flugzeug auf dein Heimatland oder das Eindringen in dessen Luftraum, um Sabotage zu begehen, ohne Deinen Widerwillen zu verraten? Wie soll man ungerührt hinnehmen, dass ein bestechlicher Richter einen Mörder freilässt, der eine Familie in Kuba in Trauer versetzt hat? Wie nicht explodieren angesichts der Verleumdung von vier Jugendlichen dort, die bei dem fehlgeschlagenen Versuch, ein Schiff zu entführen, ermordet wurden? Wie zusammen leben in einer euphorischen Umgebung, während du im Stillen nach Antworten suchst wegen der Explosionen in unseren Hotels, die das wertvolle Leben eines jungen Italieners beendeten? Wie das verbrecherische Schweigen der Massenmedien verstehen, die taub und blind sind für die Geschichte des Terrorismus gegen Kuba?
Wie? Wie?! - Nicht platzen vor Empörung, wenn die nordamerikanische Regierung nach 45 Jahren Terrorismus gegen mein kleines Land jegliche Art von Zynismus überbietet, indem sie mein Land auf eine Liste der Länder setzt, die den Terrorismus begünstigen?
Obwohl es so ist, fühle ich mich nicht unbefriedigt. Ich hoffe, dazu beigetragen zu haben, die Unschuld vieler Kinder zu retten und die Kinder von heute vor den schlechten psychologischen Folgen der Terrorakte bewahrt zu haben. Das war es, das mich bewog, dabei zu sein. Mich befriedigt es, daran zu denken, dass sie ohne Trauma aufwachsen, damit sie die gesunde Gesellschaft weiter ausgestalten können, die unsere Eltern uns übergaben und verteidigten.
Ich kann weder für die Verwandten derer sprechen, die zusammen mit den Vielen bei dem Verbrechen von Barbados niederträchtig ermordet wurden, noch für die Kinder der ermordeten Fischer, noch für den strahlenden und intelligenten Jungen, den ich kennen lernte, dessen Leben durch die Vergiftung des Wassers in seinem Kindergarten beeinträchtigt wurde, noch für die Eltern der 101 Kinder, die der Einschleppung des blutigen Dengue-Fiebers zum Opfer fielen, nicht für die Mutter des jungen Offiziers, dessen Mörder die Sympathie des bestechlichen Richters gewann, noch für die Jugendliche, deren Bein abgerissen wurde, noch für die Verwandten der Hunderten bei der Sabotage von La Coubre ermordeten Arbeiter.
Ich hoffe, obwohl sie es logischerweise sein müssten, dass sie nicht traumatisiert sind. Ich hoffe, obwohl sie jedes Recht auf Hass haben, dass sie nicht hassen. Ich hoffe, dass inmitten des Terrorismus', des wirtschaftlichen und psychologischen Krieges und inmitten der Aggressionen jeglicher Art, wir die Absicht, für sie eine hinreichend gesunde Gesellschaft zu errichten, erfolgreich weiterverfolgen.
Diese Gesellschaft, in der ich heranwuchs und der ich es verdanke, vor so schädigenden Gefühlen wie dem Hass bewahrt worden zu sein, wird den Terrorismus besiegen, der nichts anderes ist als erklärter Hass. Und sie wird ihn besiegen mit ihren enormen Reserven an Moral, Solidarität und Liebe.

Mit Hochachtung und Zärtlichkeit;

gez. René González Sehwerert

 

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